Artikel 03.10.2022

Zurück zum normalen Wahnsinn! Nillson beim Reeperbahn Festival 2022

Zwei Jahre lang hat sich das Reeperbahn Festival pandemiegerecht aufgestellt, in diesem Jahr ist endlich alles wieder so, wie wir es kennen. Das muss (noch) nicht jedem (wieder) gefallen, Fakt ist: Sich auf Hamburgs Meile wunde Füße zu holen hat so viel Spaß gemacht wie zuletzt 2019. Das ist mein Bericht.

Vor zwei Jahren machte ich es mir in meiner Wohnung gemütlich bis zum Äußersten: Beamer und Leinwand, ein toskanisches Vier-Gänge-Menü, Konzerte im Stream. Das Reeperbahn Festival hatte es geschafft, in einer Phase der Pandemie irgendwie stattzufinden, mit guten Konzepten und unglaublich viel Arbeit hinter den Kulissen, deutlich reduzierter Besucherzahl und dem wichtigen Signal, dass Kreativität und Mühe die Kulturszene wohl über die Zeit retten würden. Vielleicht ist es wirklich nur ein Jahr. Und das alles abseits von Testmöglichkeiten und Impfstoffen. Für mich ein Agreement, mit dem ich ausnahmsweise leben konnte. Dann eben Gisbert zu Knyphausen im Michel vom Sofa aus.

Ein Jahr später war man wider Erwarten nicht ewig viel weiter. Und doch gab es wieder ein Reeperbahn Festival in Hamburg. Mit der längsten Schlange, die ich je gesehen habe, um das Extrabändchen für den Impfnachweis zu bekommen; mit viel Frust beim Einlass (Delegates konnten dank der Fast Lane so ziemlich alles sehen was sie wollten, während der Ottonormalbesucher in die Röhre kuckte); reduzierte Kapazitäten überall und diese Punkte auf dem Boden, die in Zehner-Slots angerichtet waren, damit man die Menge der erlaubten Gemeinschaftsgröße nicht überschritt. Dazu: Maskenpflicht bei allen Innenkonzerten und deutlich verringerte Ticketangebote. Es war auch wieder ein Agreement, das ich traf, aber es funktionierte, weil es sich endlich wieder nach einem Erlebnis anfühlte, trotz aller Surrealität.

Im Herbst 2022 nun sind die Corona-Maßnahmen fast flächendeckend gefallen und das heißt für Europas größtes Showcase-Festival: Rückkehr zum Normalzustand. Masken sieht man nur noch in der U3, Nachweise jeglicher Art sind nicht mehr nötig: Man hat sich mit dem Risiko arrangiert. Und wer das noch nicht wieder kann, bleibt halt daheim. Das kann man alles immer noch finden, wie man will; Fakt ist aber: Es fühlt sich nach einer kurzen Überwindung gut an, wieder in vollen, verschwitzten Clubs zu stehen und neue Bands zu entdecken. Zumal wir alle wissen: Volle Clubs sind momentan gar nicht mehr selbstverständlich. Die Ticketverkaufskrise hat die Kulturlandschaft in Deutschland voll im Griff. Spürt man den Heißhunger auf das Live-Erlebnis an diesem Septemberwochenende, ist das irgendwie kaum zu fassen.

Dadurch, dass die Einlassbeschränkungen wieder funktionieren wie früher, ist es nun auch wieder möglich, die Konzerte zu sehen, die man möchte (sofern man rechtzeitig da ist). Und an Highlights war das Reeperbahn Festival nun wirklich nicht arm. Stundenlange Vorbereitung, Pläne schmieden, Alternativpläne scripten, dann doch für ein oder zwei Getränke woanders stehen bleiben: Es ist schon eine ganz besondere Freude, die gleichzeitig einen Festivalsommer abrundet und schon mal den nächsten seine Schatten vorauswerfen lässt.

Und endlich gab es auch einfach wieder einen Festivalsommer, den man rund machen konnte. Darum ist der HELGA!-Award vom Höme-Magazin in diesem Jahr, trotz des Location-Wechsels vom kuscheligen Imperial Theater in ein recht anonymes Großraumzelt im Festival Village, dieses Mal auch geprägt von großer Dankbarkeit, wenngleich es auch der Festival-Szene immer noch nicht wieder gut geht und sich angesichts der Klima-, Energie- und Besucher-Krisen im kommenden Jahr einige neue Fragen stellen werden. Aber den Festivalsommer 2022 hat es gegeben, und seine offiziellen Gewinner heißen Orange Blossom Special (Kategorie „Wohligstes Gewerkel“), Lunatic Festival („Feinstes Booking“), SNNTG Festival („Gemischteste Tüte“), Skandaløs Festival („Schönstes Miteinander“) und Futur 2 Festival („Grünste Wiese); als Bestes Festival wurde am Ende das Open Flair prämiert. Doch gewonnen hat eigentlich jeder, der es durch einen immensen Kraftakt, viel Support und ein tolles Team im Hintergrund irgendwie durch die Krise geschafft hat und den Menschen das Gefühl wiedergegeben hat, barfuß im Gras zu seinen/ihren Lieblingsbands zu tanzen.

An Awards ist das Reeperbahn Festival ja ohnehin nicht arm, so freut sich die Rapperin Nashi44 mit Sicherheit sehr über den VIA (VUT Indie Award) als beste Newcomerin, genau wie Perera Elsewhere über die Auszeichnung als bester Act. Sophia Kennedys „Monsters“ holt den Preis für das beste Album und der Verein „Musiker ohne Grenzen e.V.“ nimmt den VIA Sonderpreis mit nach Hause. Die Jury für den Anchor Award ist wie in jedem Jahr ziemlich bunt zusammengemischt. Wann sitzt schon mal Hives-Frontmann Pelle Almqvist mit Joy Denalane und Bill Kaulitz (der sich übrigens auch nicht nehmen lässt, als Gast beim Kraftklub-Surprise-Gig auf der Reeperbahn auf der Bühne zu stehen) am Tisch? Die Briten von Cassia setzen sich mit ihrem treibend-tanzbaren Indiepop letztlich unter anderem gegen The Haunted Youth (Postpunk/Shoegaze aus Belgien) und Philine Sonny (Songwriter-Folk aus Deutschland) durch – konsequente Wahl, die das Trio bei seinen Shows im Grünspan und im Nochtspeicher auch eindrucksvoll bestätigt.

Was gibt’s sonst neues? Bei den Locations ist die Reeperbahn wieder etwas mehr zusammen gerückt, was vor allem dem Wegfall der Planten & Blomen-Bühne „Draußen im Grünen“ zuzurechnen ist. Man braucht einfach weniger Platz an der frischen Luft, wenn drinnen alles wieder geht. Darum ist auch die große Außenbühne auf dem Festival Village gewichen; hier steht jetzt ein schickes Spiegelzelt (kennen wir aus Haldern!). Dadurch ist auch das Village auf dem Heiligengeistfeld selbst jetzt etwas mehr ins Geschehen eingebunden – insgesamt geht hier aber neben Zelt und Fritz Kola-Bühne aber sicherlich auch noch mehr für kürzere Wege und einen beliebteren Treffpunkt. Oft war es gerade im Vergleich zum Spielbudenplatz doch recht leer, und die wie immer grandiose Poster-Ausstellung bekommt dadurch auch nicht die Bühne, die sie eigentlich verdient hat. Dafür bleibt der Platz vor der Spielbude XL so groß wie im Vorjahr, und weil er keine Zäune mehr drumherum hat, dürfen sich hier jetzt auch Besucher ohne Ticket, genau wie beim N-Joy Reeperbus, Konzerte anschauen.

Ja und a propos Konzerte, denn darum geht es ja eigentlich. Einen vollumfänglichen Bericht abzugeben, ist da wohl wie immer ein Ding der Unmöglichkeit. Zumal es kommt, wie es nun mal immer kommt: Du willst von Punkt A nach Punkt B und von Band X zu Band Y und hast dafür geschätzte zehn Minuten Zeit, triffst aber zwischendurch mindestens drei Personen, die es schaffen, dass du ohne es eigentlich geplant zu haben mit zu Punkt C oder Punkt D kommst und dir Band Z anschaust, die irgendwie auch ziemlich lohnt. Darum, ganz ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: Wenigstens ein kurzer Überblick darüber, was für mich sehenswert war und was nicht.

Als allererste Show gibt es für mich am Mittwoch BDRMM im Village. Shoegaze-Dreampop aus Großbritannien. Der live bei weitem gar nicht so verträumt daherkommt, sondern eher wirkt wie eine ausgedehnte Jam Session mit großen Walls of Sound, durchaus druckvoll, sehr mächtig. Die landen definitiv auf der Merkliste. Bilbao im Spiegelzelt liefern straighten Indie Pop ohne Überraschungen, den gewohnt guten Sommer-Soundtrack, kann man immer wieder gut machen. Mitmach-Action für die große Festivalbühne können die Jungs inzwischen auch – die wird man sicherlich im nächsten Sommer irgendwo wiedersehen.

Hinsichtlich neuer Deutschpunk-Bands hat das Reeperbahn Festival 2022 eine ganze Palette vielversprechender Kandidaten aufgefahren. Die nahbarsten sind sicherlich Maffai, die auf der Spielbude XL gar nicht ganz so catchy daherkommen wie von Platte, sondern auf sympathische Weise wirken wie die JUZ-Band aus deiner Kleinstadt. Anschließend mache ich mich auf den Weg ins Molotow, wo ich überraschenderweise tatsächlich ganz entspannt rein komme (das kenn ich selbst aus Vor-Pandemie-Zeiten noch anderes). The Goa Express spielen britischen Indie Rock, wie er eigentlich gar nicht mehr gemacht wird; die Class of 2005 winkt aus der Ferne, aber das funktioniert natürlich immer noch zeitlos und mitreißend. Und mit Honeyglaze im Backyard gibt es dann sogar noch ein echtes Folk- und Dreampop-Highlight zwischen Mazzy Star und hymnischem Pop, auch hier gilt wieder: Live ist das deutlich druckvoller als von Platte, gefällt wirklich extrem gut.

Der Donnerstag beginnt für mich mit den Dänen von Blaue Blume auf der Fritz Kola-Bühne, die eigentlich im Dunklen spielen müssten, weil ihr sphärischer Mix aus Ambient, Pop und Postrock dort wohl nochmal deutlich besser funktioniert als bei strahlendem Sonnenschein. Immer wieder beeindruckend ist die stimmliche Range von Sänger Jonas Smith, von Postpunk-Tiefe bis in Sigur Rós-Höhen, und das Songwriting wirkt inzwischen noch tighter und präsenter – es wird endlich Zeit, dass diese Band den Durchbruch bekommt, den sie verdient.

Nach dem Helga! mache ich mich auf den Weg in die St. Pauli-Kirche, zum ersten Mal heute, denn dort wartet das erste Highlight: Die belgisch-äthiopische Songwriterin Meskerem Mees bringt in kleiner Besetzung (Gitarre / Cello) mit ihren wirklich wundervollen Folksongs zwischen Tracy Chapman und Eva Cassidy den gesamten Raum zum Schweigen in Andacht. Das sind Momente, in denen die Musik über allem steht. Das ist schlichtweg grandios. Im vergangenen Jahr hatte ich sie noch verpasst, nun stand sie dick markiert auf meiner Watchlist, und das bereue ich keine Sekunde lang.

Das oben beschriebene Szenario (mit einer Person dann doch zu Punkt C um Band Z zu schauen) greift kurze Zeit später und führt mich direkt wieder in die Kirche zurück. Dort spielt M. Byrd, der mit seinem entspannten Indie Pop in diesem Jahr zu den „Wunderkindern“ des Exportprogramms des Reeperbahn Festivals, „German Music Talent“, gehört. Allein, er hinterlässt keinen bleibenden Eindruck. Das war im letzten Jahr in der Sonne irgendwie passender in seiner Lockerheit, hier in der Kirche, wo man so richtig zuhört, wirkt es schon nach fünf Songs etwas beliebig. Danach halten wir noch mal hier und mal da an, aber weder Roller Derby, noch Yatwa halten mich länger fest. Der Donnerstag geht ohne krönenden Abschluss zu Ende.

Die kurzen Shows beim Reeperbus auf dem Spielbudenplatz eignen sich gut, sich im Schnelldurchlauf mit festem Platz einen Überblick zu verschaffen, wen man vielleicht noch nicht auf dem Laufplan hatte und auf wen sich am Abend noch ein zweiter Blick lohnt. Mit Sicherheit gilt das für The Haunted Youth aus Belgien, die in kleiner Besetzung zeigen, dass ihr atmosphärischer Postpunk auf glasklaren Indie Pop-Füßen steht. Und mit ganz großer Sicherheit gilt das für den Kanadier Billy Raffoul, inzwischen gar kein so gut gehütetes Geheimnis mehr. Der wird am Samstag (allerdings ohne mich) im Michel auftreten und zeigt hier zunächst alleine, dann mit immer mehr Band-Verstärkung, warum die Pop-Welt mit diesem langhaarigen Typ in den nächsten Jahren rechnen muss.

Und im Michel wartet dann mein ganz großes Highlight. Denn als ich vor zwei Jahren vom Sofa aus Betterov entdeckte, hat sich wohl keiner ausgemalt, dass ihm einer der exponiertesten Slots des Jahres 2022 mit einer der ausgefallensten Shows gehören würde. Denn Betterov spielt hier, kurz vor Release seines Debütalbums „Olympia“ (endlich!) im Oktober, nicht etwa alleine bzw. mit Band, sondern es ist ein „Betterov & Friends“-Konzert, mit kleinem Orchester und illustren Gästen von Novaa und Paula Hartmann über Fil Bo Riva bis Olli Schulz (!). Das Konzept, die angedunkelten, Postpunk-nahen Indie-Popsongs von Manuel Bittorf in ein reduziertes, orchestriertes, andramatisiertes Set zu übertragen, funktioniert mal besser („Das Tor geht auf“, „Nacht“) und mal tatsächlich auch nicht so gut („Platz am Fenster“ und leider auch „Dussmann“). Die Gastauftritte sehen so aus, dass zunächst ein Betterov-Song und dann einer der Friends gemeinsam intoniert wird, wobei Fil Bo Riva auf die Darbietung eines Gastgeber-Tunes verzichtet und Olli Schulz durch seine enorme Bühnenpräsenz das Konzert ziemlich schnell an sich reißt – Bittorf ist selbst einfach zu überwältigt von dem beeindruckenden Ambiente und wie gut sein Plan einfach heute funktioniert, dass er sich gar nicht dagegen wehren kann. Nach anderthalb Stunden ist Schluss, und es war sehr schön, aber nicht der erwartete Superflash.

Den gibt es dafür bei den Whispering Sons im Indra mit höchst intensivem Postpunk und einer Frontfrau, die genau weiß, dass sie wohl von jedem, der mit dieser Band nicht vertraut ist, unterschätzt wird. Aus diesem zierlichen Persönchen kommt nämlich eine Stimme, die so gar nicht zu ihrer äußeren Erscheinung passen will. Aber Fenne Kuppens gibt mit Freude den Derwisch und hinterlässt eine Menge Staunen und tiefe Versunkenheit in ihre düsteren Soundkonstrukte. Ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Auftritt. Den die Kanadier von Kiwi Jr. im Backyard natürlich nicht toppen können, obwohl ihr zwischen Indierock und Collegepop schwankender Sound viel Spaß macht, doch die Synapsen schlagen nicht mehr in Richtung Aufnahmefähigkeit aus und das ist nach diesem Tag auch vollkommen okay so.

Das Reeperbahn Festival 2022 endet für mich aus privaten Gründen schon einen Tag früher und der Samstag fällt aus. Da Hamburgs Wetter sich aber auch ab jetzt äußerst klischeehaft präsentiert und das Flanieren zwischen Sünde und Sound im Regen gar nicht ganz so viel Spaß macht, bin ich damit ausnahmsweise okay. Alles, was ich mir von einem Wochenende wie diesem erwartet habe – Freunde treffen, Musik hören, Bands entdecken, gute Gespräche und Essen im Maharaja – habe ich bekommen.

Ein paar Tage später feiert meine Corona Warn-App natürlich Karneval. Ohne Kollateralschäden kann ein solches Event natürlich nicht funktionieren, aber das wusste man vorher und ich komme ungeschoren davon. Realität ist, dass das Realität ist und es wohl in Zukunft immer ein paar Unglückliche geben wird, die die schönen Tage mit einer Woche in Isolation bezahlen müssen. Nichtsdestoweniger gilt: Das Reeperbahn Festival hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Alles hat gut ineinander gegriffen, fühlte sich gut organisiert und unfrustig an (letzteres gilt auch ausnahmslos für alle Besucher*innen, die mir über den Weg gelaufen sind).

Ich bin gespannt, welche Neuentdeckungen oder verpasste Highlights ich im kommenden Festivalsommer wiedersehen werde. Und ich freue mich jetzt schon wieder auf das Planen, Laufen und Scheitern im nächsten September.

 

Text: Kristof Beuthner