Artikel 10.09.2016

Wir bauen uns ein Festival. Nillson bei der Pop-Kultur 2016.

Auf dem Alfred-Scholz-Platz steht eine rechteckige Holzbude, die mit einem großen P und einem verschnörkelten K verziert ist. Drinnen sitzen mehrere Personen und verkaufen Tickets. Der ohnehin wuselige Stadtteil wirkt an diesem letzten Augusttag noch lebendiger. Zwischen den U-Bahneingängen Rathaus Neukölln und Karl-Marx-Straße ploppen einzelne Hinweisschilder auf. Hier geht es zum Passage Kino, dort zur Kultstätte Keller, die Rollbergstraße rauf zum SchwuZ. "Wo geht es denn hier zum Hafenklang?", fragt mich ein Mann mit merklich hanseatischem Tonfall im Vorbeigehen. "Das Hafenklang ist in Hamburg.", antworte ich. "Achja. Haha. Ich meine den... äh... Heimathafen." "Die Straße runter auf der linken Seite." Es ist Pop-Kultur Festival in Neukölln.

Was war das für eine fulminante Premiere im vergangenen Jahr! Mitten hinein in die elektronische Herzschlagader der Stadt, dem Berghain, wurde die neue Prestigeveranstaltung der Berliner Musikwirtschaft verpflanzt. Als Nachfolgefestival der runtergerockten Music Week mit allerlei Vorschusslorbeeren und stattlicher Förderung durch den Senat gestartet, waren die Erwartungen zwangsläufig hoch. Es zeigte sich: Ein solches Format, wie es Hamburg mit dem Reeperbahn Festival schon lange zuvor hatte, fehlte der Hauptstadt. Drei bis vier Tage im Jahr für popkulturelle Vernetzung und spannende Premieren. Drei bis vier Tage, die Musikwirtschaft unter ein Brennglas stellen.

Es ergab dann auch durchaus Sinn – nach dem Start im Berghain – weiter in den Neuköllner Kiez zu ziehen. Somit konnte die Aufbruchstimmung, die die 2015er Ausgabe umgab, auch mit ins zweite Jahr genommen werden. Alles Neu-Kölln also. "Gentrifizierung ist am schönsten, bevor sie fertig ist.", hat der Satiriker Friedemann Weise gesagt. Zwischen all den Empfehlungen bei TripAdvisor gibt es in Neukölln noch ausreichend Platz für Krach und Schmutz und Staub. Der Stadtteil hat eine hohe Dichte an spannenden Veranstaltungsorten unterschiedlichster Größe und Stilform, bietet Kiezflair und industriellen Charme. Willkommen im urbanen Popkulturlabor!

Knapp 660.000 Euro aus EU- und Landesfördermitteln standen den Machern des Festivals 2016 zur Verfügung. Welchen Stellenwert die Förderung von Musikwirtschaft und Popkultur für die Stadt Berlin hat, zeigt nicht nur das üppige Budget, sondern auch die unmissverständliche Aussage des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller: "Berlin arbeitet an seiner Zukunft als Zentrum der internationalen Pop-Kultur."

Schnell stand das Wort "Wettbewerbsverzerrung" im Raum. Die Stadt verschaffe dem Pop-Kultur Festival Vorteile am Markt, so dass dieses Eintrittskarten günstiger anbieten könne. Vergleichbare Formate, die sich aus eigener Kraft über Wasser halten müssen, schauten in die Röhre, so Kritiker. Die Welle des Missmuts gegenüber dem Festival und der Musikwirtschaftspolitik des Senats entlud sich, als in Neukölln verwurzelte Kreativschaffende das Off-Kultur Festival als eine Art "Gegenveranstaltung" zeitgleich zur Pop-Kultur stattfinden ließen.

Das Pop-Kultur Festival repräsentiere nur unzulänglich die freie Szene Neukölln, lautete ein zentraler Kritikpunkt. Das Für und Wider von Veranstaltungsformaten, die maßgeblich durch die öffentliche Hand finanziert werden, ließe sich an dieser Stelle sicherlich ausführlich diskutieren. Fest steht, dass durch die Konflikte vor Beginn der Pop-Kultur die Debatte, wie Popkulturförderung auszusehen hat, befeuert wurde, was grundsätzlich erstmal eine gute Sache ist.

Die Kuratoren der Pop-Kultur 2016 Katja Lucker (Geschäftsführerin der Musicboard Berlin GmbH), Martin Hossbach und Christian Morin nutzten die Landes- und EU-Förderung, um ein vielseitiges Festivalprogramm auf die Beine zu stellen. Die Acts, die sich in dieser Konstellation in keinem Lineup der hiesigen Festivallandschaft wiederfinden, sind ein Alleinstellungsmerkmal der Pop-Kultur. So spielte die schottische Band Mogwai bereits am Abend vor dem ersten offiziellen Festivaltag im Admiralspalast mit "Atomic" ein atemberaubendes Stück Filmmusik. Das Livekonzert zu eindringlichen Aufnahmen aus der BBC-Dokumentation über Atomenergie und ihren Gefahren legte die Messlatte für die Veranstaltungen an den darauffolgenden Tagen beträchtlich hoch und war einer der Höhepunkte des Festivals. 

Sachverhalte pophistorisch einordnenund  hinterfragen, neue Diskussionsebenen entwickeln – auch dies schreibt sich das Festival auf die Fahne. Im Programm "Pop-Kultur Nachwuchs" entwickelten Nachwuchskräfte gemeinsam mit etablierten Produzenten, Musikern und Labelmanagern Ideen und Utopien für eine Weiterentwicklung der Branche. Ein fruchtbarer Austausch zu relevanten Themen fand auch in den Talks im Rahmen des Festivalprogramms statt. Während im vergangenen Jahr Strukturelles wie die Reform des Urheberrechts oder Geschlechtergerechtigkeit in der Popmusik im Vordergrund standen, lag 2016 ein Schwerpunkt auf popkulturellen Prozessen: Wie entstand Popkultur und welche politischen und gesellschaftlichen Einflussgrößen machen sie zu dem, was sie ist? 

Ein fruchtbarer Austausch gelang bei dem einen Talk mehr, bei dem anderen weniger. Das Gespräch zwischen dem Punkchronisten Jon Savage und dem Video-Künstler Phil Collins zum Aufkommen des Punk in Großbritannien blieb leider nicht mehr als eine Werbeveranstaltung für Savages neuestes Werk "1966". Zu selten gelang es Collins, Savage aus langen monologisierenden Passagen zurück zum Kernthema zu bringen.

Beim Talk zum Thema "Pop & Depression" wurde die Autorin Kathrin Weßling, die krankheitsbedingt absagen musste, schmerzlich vermisst. Sie hätte mit Sicherheit noch eine weitere interessierte Perspektive in das Gespräch einbringen können. So blieb es Tobias Bamborschke von Isolation Berlin überlassen, zu berichten, wie Depressionen seine Arbeit als Songwriter und Autor beeinflussen.

Am meisten Substanz hatte der Talk zwischen Colin Newman (Ex-Wire) und Ronald Lippok (Ex-To Rococo Rot), der von Autor und Journalist Wyndham Wallace moderiert wurde. Die beiden tauschten sich in einem launigen und mit Fachwissen gespicktem Gespräch zu Schnittmengen zwischen britischer und deutscher Popmusik aus. Der Talk am Festivalfreitag mit Ryan Mahan (Bassist von Algiers) bot interessante Einblicke in das Innenleben einer politischen Band, die in ihren Songs immer wieder Stellung zu Rassismus und Kolonialismus bezieht. 

Und die Musik? Die größte Location des Festivals, Huxleys Neue Welt, war am ersten Festivaltag Spielort für das Eröffnungskonzert. Marius Lauer, seineszeichens Schlagzeuger der Band Beat!Beat!Beat!, kann Popsongs schreiben. Als Roosevelt brachte er beim Pop-Kultur Festival einen Dance-Pop-Hit nach dem anderen auf die Bühne. Der Musiker ist ein Aushängeschild der Szene. Anschließend folgte das Techno-Projekt Brandt Brauer Frick. Auch die Berliner haben bereits beträchtliches internationales Ansehen erlangt und traten bei legendären Festivals wie dem Glastonbury oder dem Coachella auf. Mit ihrem Ansatz elektronische und klassische Musik zu vereinen, legten sie das Huxleys in eine Stimmung irgendwo zwischen Konzertsaal und Technoclub. 

Als Ezra Furman mit seinen Boy-Friends dann am fortgeschrittenen Abend im SchwuZ "Body Was Made" spielte, war dies einer der herausragenden Momente der Pop-Kultur 2016: "My body was made this particular way. There's really nothing any old patrician can say. You social police can just get out of my face. My body was made." Lässt es sich besser zusammenfassen, wofür Popkultur steht? Die brillianten Songtexte und kreativen 50er-Jahre-Arrangements stellten alles bisher Gesehene in den Schatten.

Den zweiten Festivaltag starteten wir musikalisch mit entspanntem genreübergreifendem Pop der US-Amerikanerin Alice Cohen. Knarzig und laut wurde es anschließend mit Immersion, dem Projekt des Musikerpaares Colin Newman und Malka Spigel. Unterstützt wurden beide am Schlagzeug von Ronald Lippok, der Tags zuvor bereits Gesprächspartner von Newman im Passage Kino war (siehe oben). Immersions Minimal-Sound drang in jede Ecke der Kathedrale des SchwuZ vor und hielt sich an den Wänden, um dann wieder von neuen Klängen überdeckt zu werden. Ein faszinierend nerdiges Werk haben Newman und Spigel da geschaffen. Schwer zu greifen, aber lange nicht so noisy und kantig wie der darauffolgende Act Liars, der nicht meine Tasse Tee war, aber bei diesem vielfältigen Festival seine absolute Daseinsberechtigung hatte.

Flora Fishbach war eine der positiven Überraschungen der Pop-Kultur 2016. Mit ihrem Mix aus französisch- und englischsprachigen Songs in ungewohnter, aber äußerst eingehender Struktur stand die Französin im SchwuZ Salon auf der Bühne und lieferte solo mutige Popsongs ab. Stark. Mehr als solide war auch der Auftritt von Fai Baba in der elegantesten Location des Festivals, dem Prachtwerk. Es ist schon eine Herausforderung, die instrumentale Verve des Post-Rock mit eingängigem Pop in Verbindung zu bringen. Der Schweizer hinterließ Eindruck an der Gitarre. Und manchmal reicht dann eben auch ein Drummer als zusätzlicher Musiker, um Soundwände zu generieren.

Und wie immer hat mich sich zu viel für drei Tage Festival vorgenommen. Den Abend des letzten Tages im SchwuZ dann noch mit diversen Interviewterminen zu vereinbaren, war wohl nur eine Wunschvorstellung. Gut ist es dann, wenn sich die Interviews gelohnt haben und trotzdem das Gefühl bleibt, viele ausgezeichnete Momente von dieser zweiten Ausgabe des Pop-Kultur Festivals mitgenommen zu haben.

Die Macher der Pop-Kultur können zufrieden sein. Zwar wurde wohl mit deutlich mehr verkauften Tickets gerechnet, was sich an den zeitweise großen klaffenden Lücken im SchwuZ zeigte. Aber: Es braucht eben seine Zeit, um ein neues Format, das sich in kein vorher dagewesenes Raster schieben lässt, zu etablieren. Da ist dann eben so ein Festival eine immerwährende Baustelle.

Und das ist es ja auch, was die Hauptstadt ausmacht: Das Unvollendete, das Ruhelose und das Unangepasste. Es darf also weiter an der Pop-Kultur gebaut werden. An der Baustelle auf der Karl-Marx-Straße wird schon die nächste Mischung Zement, Wasser und Kies angerührt. Bis nächstes Jahr, liebe Pop-Kultur!


Text: Daniel Deppe
Titelfoto: Pop-Kultur
Fotos 1,3,4: Roland Owsnitzki
Foto 2: Annett Bonkowski