Artikel 04.05.2013

Vom drohenden Wolf und tröstlichem Rost. Zinnschauer im Interview.

Momentan denkt man ja, man habe in der deutschsprachigen Musik schon alles gehört. Nicht ganz, stellt man fest, denn da gibt es ja noch Jakob Amr alias Zinnschauer, dessen vergangenes Jahr erschienenes Album "Kalter Blick, scharfer Zahn" endlich wieder etwas wagt.

Die Geschichte, die er auf diesem Album erzählt, ist tiefst melancholisch, getrieben von Angst und Weltschmerz, und dass sein Schaffen einen Ursprung aus der emotionalen Intensität des Screamo findet, ist jederzeit zu spüren. Das Album strotzt vor Märchenmetaphorik und ist, vorgetragen rein mit einer Western-Gitarre, gespickt mit musikalischen Brüchen, Tempiwechseln und sogar gesprochenen Passagen, die man in derart reduzierter Musik nicht erwarten würde. Ein bißchen ist es so, als hätten The Hirsch Effekt Klez.e's "Vom Feuer der Gaben" auf einer einzigen Gitarre eingespielt.

A propos The Hirsch Effekt: Zusammen mit den Post-Prog-Punk-Screamo-Aufsteigern des vergangenen Jahres wird Zinnschauer Ende Mai eine Split-12" veröffentlichen; mit "Ich bin deine wachsenden Arme" wird darauf ein neues Konzeptwerk von ihm zu finden sein. Doch zu viele Fragen gibt es noch zu seinem Erstling. Wer es schafft, ohne große Promo und Brimborium derart nachhaltig zu faszinieren und zu berühren, bei dem muss man einfach nochmal nachhaken.

Im Interview erzählt Jakob Amr über seine Nähe zu Rilke und The Mars Volta, das innere Kind und den Stand deutschsprachiger Musik.

Die obligatorische Einstiegsfrage: Du hast ja vorher schon in mehreren Bands gespielt...

Ja, richtig - Und mit der letzten Band in der ich war, And The Waves Will Carry Us Home hieß sie, hätten wir auch eigentlich durchstarten wollen, aber es hat irgendwie nicht sein sollen. Was wirklich schade ist.

Woher kam dann der Impuls, alleine zu musizieren?

Der Bandsplit und mein Soloprojekt sind auch nicht miteinander einher gegangen; der Impuls, alleine Musik zu konkretisieren, kam als sich langsam heraus kristallisierte, dass unsere gemeinsame Band nicht überleben würde. Da habe ich mir eine schöne neue Gitarre gekauft und Ideen entwickelt, wie weit man mit einer Stimme und einer Western-Gitarre gehen kann. Strukturelle Ideen aus der Band aufgegriffen und sie für mich alleine umfunktioniert, neu geordnet. Ich fing an die Songs zu schreiben und habe mich auch immer mehr dahinter geklemmt. Und ich würde schon sagen, dass der Impuls aus der zunehmenden Banddepression immer stärker wuchs.

Depression sagst du: Würdest du sagen, dass deine Musik daher auch diesen düsteren Unterton trägt und gar nicht so sehr aus einem Überschwang ungenutzter Kreativität entsprungen ist?

Ein bißchen von beiden Seiten, würde ich sagen. Ich bin eigentlich musikalisch immer in Bewegung und arbeite an Sachen; ich hab schon mega trashige Elektrosachen aufgenommen und auch mal versucht, ein bißchen zu rappen, aber die Zinnschauer-Sache ist schon deutlich aus diesem Gefühl von Band-Depression heraus entstanden, genau wie der unbedingte Wille, diese Songs auch nach draußen zu tragen, sie vor Leuten zu spielen.

Was mich ja dann direkt zur nächsten obligatorischen Frage führt: Wo kommt der Name Zinnschauer her? Warum ausgerechnet dieser?

Dazu muss ich erstmal sagen, dass Zinnschauer nur vordergründig ein Soloprojekt ist. Im Hintergrund machen sich ein paar Menschen um mich herum mit mir Gedanken, und mit ihnen habe ich auch diesen Namen ausgedacht. Inspiriert hat mich tatsächlich der Animé "Chihiros Reise ins Zauberland", wo die Namen von den Figuren sehr bildsprachlich ins Deutsche übersetzt wurden. Es gab Ohngesicht, die Rußmänner, den Faulgott... alles Namen und Wortkombinationen, die ich so noch nie gehört hatte und die mich sehr fasziniert haben. So ein Wort wollte ich auch. Und Zinnschauer hat dieses leichte Märchen-Flair, das war mir wichtig, denn ich fand, das passte zu der Form von Storytelling, die ich für mich beanspruche.

A propos: Hast du ein Lieblingsmärchen?

Eine erschlagende Frage! So ein großer Märchenkenner bin ich eigentlich gar nicht. Ich lese gerne Rilke! Nein, was mich viel mehr auf diese Konzeptalbum-Idee gebracht hat, war meine Lieblingsband The Mars Volta, die ja auch mit sehr kryptischer Metaphorik und Symbolik arbeiten und abgefahrene Zusammenhänge herstellen, um ihre Geschichten zu erzählen. Dass man nie genau weiß, worum es geht, und trotzdem total hin und weg ist, fasziniert mich sehr!

Das heißt, die Märchenmetaphorik, die du für "Kalter Blick, scharfer Zahn" gewählt hast, rührt gar nicht von einer Liebe zum Märchen her sondern ist tatsächlich rein inspirativ über Bands wie The Mars Volta entstanden?

Ich glaube, dass sich das aus vielen Komponenten zusammen setzt. Ja, die Symbolik und die Sprunghaftigkeit sind sicherlich an The Mars Volta angelehnt, doch die bedienen sich auch vielen Begriffen aus dem Lateinischen und Altgriechischen; mir war es wichtig, einsprachig zu bleiben. Textlich würde ich das, was ich mache, eher tatsächlich bei Rilke wieder finden, der zum Beispiel auch bestimmte Schlagwörter über einen Werkzyklus hinweg immer wieder verwendet, was dem ganzen einen tieferen Sinn und einen roten Faden gibt. Bei mir sind das eben zum Beispiel der Wolf und die Kinder.

Du vermischst ja auf deinem Album grundsätzlich mehrere Stilrichtungen und bindest auch immer wieder Spoken-Word-Passagen ein: Auch eine Anlehnung an die Kunst Rilkes, um die poetische Komponente deiner Musik noch mehr hervorzuheben?

Ich möchte das gar nicht zu sehr übersteigern oder gar von Avantgardismus sprechen. Aber ich mag es einfach, Koventionen zu brechen und zu schauen, was passiert. Meine alte Band hat ständig mit Konventionen gebrochen, denn man kann ja heute keine neue Musik mehr schaffen, wenn man nicht mit Konventionen bricht, ha ha.

Wo fängt denn Avantgardismus an? Das, was du machst, ist ja in der Form gerade relativ einzigartig. Seit Klez.es 2009er Album "Vom Feuer der Gaben" habe ich keine so starke, metapherngeladene, kunstvolle deutschsprachige Musik mehr gehört. Ging es dir bei deinem Songwriting um eine Mitte zwischen Konventionalismus (die einfache Instrumentierung z.B.) und dem Bruch von Konventionen (die teils vertrackte Melodieführung, die gesprochenen Passagen...)?

Ja, definitiv. Ich weiß auch genau, dass wenn ich klassische Singer-Songwriter-Musik machen würde, ich sie nicht interessanter gestalten würde als es der Konsens gerade macht. Da gibt es auch einfach Leute, die charismatischere Stimmen haben als ich. Das würde für mich nicht so funktionieren und ich muss nicht versuchen, da das Genre aufzufrischen. Ich komme eher aus Frickelbands, bin eigentlich eher an der E-Gitarre versiert. Mein Ansatz war eher, das auf die pure Western-Gitarre herunterzubrechen.

Hattest du denn vor, mit dem Album jetzt auch konkret eine Geschichte zu erzählen?


Absolut.

Für den Hörer ist das natürlich bei so viel Metaphorik immer eine eigene Sache, das Album für sich zu deuten. Interessiert dich, was Hörer dir da so wiederspiegeln?

Oh ja. Ich bin nicht ganz so drauf, dass ich die Sachen so schreibe, dass im Endeffekt jede Interpretation eine richtige ist, aber mich interessiert sehr, was die Hörer daraus machen. Ich glaube, die meisten Theorien habe ich über die Bedeutung des Wolfes gehört und bin damit eigentlich auch ganz zufrieden (lacht).

Das ist ein interessantes Phänomen, denn man ist ja immer auf der Suche nach dem Punkt, der einen anfixt, selbst wenn man die Aussage der Lyrics nicht sofort begreift. Die wiederkehrenden Elemente in deinen Songs sind die Bleiche, der Rost, der Wolf, die Kinder. Ist es eine Trennungsplatte? Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit? Etwas von beiden Seiten?


Du hast es erwischt, ja. Ich möchte das jetzt gar nicht so riesig ausschmücken, aber es trifft wirklich zu. Der Protagonist nutzt die Bleiche, um sich all seiner Erinnerung zu entledigen. Darum kippt er sich die Bleiche in die Augen, damit er all die Farben nicht mehr sehen muss. Er schafft es aber nur auf einem Auge, darum entsteht der Doppelblick auf das, was noch schön ist im Leben, und der auf die Vergänglichkeit.

Bemerkenswert ist auch der Wechsel zwischen Gesang und Schreien. Ich persönlich höre eigentlich gar keine Musik, in der geschrien wird, aber bei deinem Protagonisten ist es nachvollziehbar.

Das war mir wichtig: Unkonventionelle Elemente zu verwenden, und die Leute trotzdem mitzunehmen. Vielleicht haben jetzt auch drei Menschen irgendwo plötzlich Lust, sich mal eine Screamo-Platte anzuhören, weil man merkt, dass das Zuhören wertvoll sein kann.

In der Literatur steht der Rost auf der einen Seite für Lethargie und Verfall, auf der anderen Seite aber auch für Trost. Du singst an einer Stelle, "Schau dir deine Hände an, der Rost hält ganze Winter lang".

Ja. Und eine gewisse Form von Halt gibt es. Dinge rosten, wenn sie alt werden. Man findet einen Umgang mit dem eigenen Verfall, wenn man ihn gemeinsam durchsteht. Es ist schmerzhaft und tröstlich zugleich.

Ist die eigene Vergänglichkeit ein Problem für dich?


Allerdings, ja. Riesig. Vor allem diese ganzen Schlagsätze wie "Alles ist vergänglich, also ist alles egal". Das hält mich mal mehr, mal weniger auf. Im Moment ist es gerade ganz gut.

"Unser Wert geht mit dem letzten von uns, und der letzte geht auf jeden Fall" heißt es an einer anderen Stelle. Dann aber immer wieder auch dieses Bild von Kindern, sorglos, unbekümmert. Glaubst du an das innere Kind, das einem bei der Auseinandersetzung mit so ernsten Themen helfen kann?


Schon, aber dezent. Wenn man nochmal Kind wäre, würde man den Glauben an die Schönheit des Kindseins wieder verlieren, denke ich. Aber irgendwie ist es eine Hoffnung, ein Erstreben an das Erhalten von einer bestimmten Naivität. Und ich versuche das auch zu pflegen. Komplett konservieren kann man es bestimmt nicht, aber ein Auge darauf zu haben lohnt sich sehr. Diese Perspektive kann dann auch sehr tröstlich sein. Gerade, wenn man mit Themen wie Vergänglichkeit und Tod nicht ganz so cool ist, lohnt es sich, das innere Altern - oder das Erwachsenwerden - vielleicht nicht ganz so stark voranzutreiben.

Das Altsein, Erwachsensein, Frustriertsein findet sich dann in dem Wolf, der auf dich lauert, wie etwas, dem du eben nicht entrinnen kannst? Dann gibt es auf dem Album auf einmal die Wende, als sich - in dem einzigen orchestrierten Stück - der Protagonist dem Wolf auf einmal stellt und sagt, "Und jetzt warte ich auf ihn".

Genau, ganz zum Ende, nachdem er sich die Bleiche in das eine Auge kippt, nimmt er sich durch den Verlust der Farben seine Kindlichkeit und stellt sich dem Unausweichlichen. Eigentlich überspringt der Wolf sogar das Altsein und verkörpert direkt den Tod, aber es ist durchaus auch für beides passend.

Es ist ja in diesem Zusammenhang spannend, dass Kinder eine ganz irrationale Urangst vor Wölfen haben.


Deswegen sind die Kinder auch eine Art Vorbild für den Protagonisten. Sie haben ihre Ängste, aber sie stehen wieder auf und verdrängen sie aufgrund einer Schönheit des Lebens. Am Ende sind trotzdem alle tot, alle Hoffnung ist verloren und das Album ist vorbei (lacht).

Bauen wir nochmal die Brücke zu dem Beziehungsaspekt der Platte: Glaubst du, dass Kinder in ihrer naiven Fähigkeit zu lieben die intensiveren Beziehungsmenschen wären als wir?

Ein Satz, der mich abschreckt, ist "Eine Beziehung ist auch Arbeit". Ich verstehe den Gedanken dahinter, dass man sich immer auch in den anderen hineinversetzen muss um dauerhaft glücklich zu sein. Doch ich denke schon, dass diese simple und naive Zuwendung von Kindern da von Vorteil sein kann. Andererseits sind Kinder aber eben auch sehr sprunghaft; haben sie ein Spielzeug begriffen, möchten sie sofort ein neues. Kinder hätten vermutlich tolle Kurzbeziehungen.

Kann es hoffnungsfroh stimmen, dass man den Weg, den man gehen muss, nicht allein geht? Wir setzen zwar Rost an, aber der Rost hält ganze Winter lang...

Ja, natürlich. Ich versuche es nur nicht mit einer Eingefahrenheit oder einer reinen Ritualbeziehung gleichzusetzen.

Hat das Schreiben deiner Songs eigentlich eine Art therapeutische Wirkung für dich?

Hat und hatte immer schon, ja. Auch wenn ich nie eins zu eins der Ich-Erzähler von ihnen bin.

Nochmal was ganz anderes: Du pflegst ja eine gewisse Nähe zur Band The Hirsch Effekt. Wie ist das eigentlich für dich, wenn man dir sagt, dass deine Musik eine Art "akustische Version" von ihrer darstellt?


Kein wirklich schönes Gefühl, auch wenn ich's direkt verstehe und die Band auch eine sehr große Inspiration ist. Wir haben schon von der Idee, wie man mit Brüchen und krummen Takten und ungewöhnlichen Melodiebögen umgeht, viel gemein. Aber ich denke, dass man das ruhig auch getrennt betrachten darf. Ich fühle mich manchmal sogar ein bißchen unterschätzt, wenn mir jemand sagt, ich interpretiere Hirsch-Effekt-Songs auf einer Western-Gitarre. Aber: Es ist der absolut naheliegendste Vergleich, denn ich denke, von den halbwegs bekannten Bands in Deutschland liegen sie meiner Musik absolut am nächsten.

Seit einiger Zeit ist ja in der deutschsprachigen Musik eine gewisse Entwicklung erkennbar. Die Fronten teilen sich in reduzierten Songwriterpop und neuen, harten Punk oder Prog (Hirsch Effekt, Captain Planet, Adolar). Wie beurteilst du das? Siehst du dich auf irgendeiner Seite oder eher in der Mitte?

Das ist echt schwierig. Ich kann ja tatsächlich beiden was abgewinnen. Meine besten musikalischen Freunde sind an sich Paan, eine super vielschichtige Prog-Screamo-Band. Dann gibt es da den Songwriter Tigeryouth, der eben sehr minimalistisch über Zigaretten, Bier und Nächte auf durchgelegenen Matratzen singt. Ich kann ohne weiteres im Vorprogramm von beiden spielen. Und eine Mitte gibt es glaube ich schon auch so noch. Es haben nur vermutlich die Leute mittlerweile ihr Lieblingsalbum und seine Choriphäe, man braucht da gerade niemand neues. Eine direkte Positionierung finde ich übrigens gar nicht so wichtig. Sie macht an sich ja vor allem oberflächlich Sinn...

...ja, okay...

...aber ich möchte mich trotzdem gerne positionieren (lacht). Wenn ich eine ganze Band wäre, ginge es sicherlich eher in die Hirsch-Effekt-Richtung. Aber ich versuche, die Zugänglichkeit in meiner Musik zu halten, obwohl sie von der Struktur her eigentlich sicher nicht so zugänglich ist.

Wie geht es mit dir als Zinnschauer weiter? Siehst du das als Phase oder treibst du das voran?

Absolut volle Power, hundert Prozent. Ich bin mächtig stolz auf die 12" mit The Hirsch Effekt und auf die neue Musik und möchte absolut starten damit. Viel spielen, mich gut darum kümmern. Und ich bin total gespannt, wie es den Leuten gefällt.


Text: Kristof Beuthner
Fotos: Hendrik Lueders, Jenny Timmermann