Artikel 13.10.2014

Vier Tage auf dem Klangteppich: Nillson beim Denovali Swingfest 2014

Viel wurde und wird derzeit angesichts der deutschen Festivallandschaft davon gesprochen, dass die Heilung in der Nische liegen muss. Im Besonderen. Und Das Label Denovali Records aus Bochum ist fraglos ein Nischenlabel, und es ist ebenso fraglos besonders.

Der Stilmix der hier gesignten Bands und Künstler ist immens vielfältig, reicht von Postrock über Hardcore und Black Metal bis hin zu Noise, Doom, Ambient und Darkjazz und bietet außerdem noch vollendete Schönheit in getupften Gemälden der Neoklassik. Die Kunstfertigkeit der Musik spiegelt sich adäquat wieder in den eher düsteren Cover- und Label-Artworks. Wie viel Liebe darin steckt, offenbart sich nicht zuletzt durch die mit freundschaftlichen Querverweisen, Empfehlungen und Beschreibungen versehenen Sticker auf den CDs und Platten. Es zeigt sich auch in der Hingabe, ein Triumvirat eigener Labelfestivals in Berlin, London und Essen auf die Beine zu stellen, Jahr für Jahr.

Wo Berlin und London da als Kulturhauptstädte Europas durchaus Sinn ergeben, ist Essen erst auf den zweiten Blick als Austragungsstätte plausibel. Zum einen ist es recht nah an der Labelheimat Bochum gelegen, zum anderen versprüht es den industriell-grauen Charme des unnatürlich Künstlichen. Dazu passt auch die Weststadthalle, die das Festival beherbergt. Von außen verkleidet mit Glas, innen zwischen metallenen Kranhaken, die von der Decke hängen, und rustikalem Backstein. Ein bißchen surreal, das alles. Wie die Musik, die man sich an vier Tagen im Jahr in ihr zu Gemüte führen kann.

Das Booking beim Denovali Swingfest ist seit Jahren exquisit. Neben labeleigenen Künstlern decken auch die Gäste die bereits eingangs geschilderte musikalische Palette ab. Und genau diese Gäste sind dann tatsächlich auch die Namen, die auch Musikmenschen, die nicht so firm in dieser Nische sind, erklärlich machen, auf das man sich hier einzulassen gedenkt. Nils Frahm war schon da, A Winged Victory For The Sullen, dieses Jahr Hauschka, Bohren & Der Club Of Gore und A Silver Mt. Zion. Trotzdem erntet man beim Indiepop-Bekanntenkreis erstmal vor allem anerkennenden Respekt: Vier Tage lang experimentelle Musik? Donnerwetter. Es vergehen einige Sekunden. Dann kommt es: "Wird dir das nicht zu krass?"

Zugegeben: So ganz genau wusste ich das auch nicht. Fast jeden der auftretenden Künstler hatte ich mir angehört, an Abenden mit Kopfhörern, Kerze und Rotwein, und mich immens vorgefreut. Aber vier Tage lang, an dreien davon für satte zwölf Stunden? Ein Experiment. Gut ist ja beim Swingfest, dass keiner mehr muss, als er möchte bzw. sich zutraut. Der eröffnende Piano-Abend am Donnerstag kostet extra, danach sind alle drei Tage entweder im Kombipreis oder exakt preisgleich aufgeteilt als Tagestickets zu haben. Da kosten die einzelnen Tagestickets nicht wie bei vielen anderen Festivals zusammen mehr als ein Kombiticket. Hier darf man sich wirklich genau auf so viel freuen, wie man mag.

Und was für zwei fantastische Künstler in diesem Jahr eröffnen durften: Federico Albanese, dessen wundervolles Debüt "The Houseboat And The Moon" zu meiner meistgespielten Platte des Jahres avanciert ist, und der Argentinier Sebastian Plano, dessen aktuelles Album "Impetus" von ungeheurer cineastischer Schönheit erstrahlt. Das passt. Das ist mehr als adäquat. Es ist auch sinnvoll, dass dieser Auftaktabend bestuhlt ist. So kann man auf bequeme Weise zusehen, wie Federico Albanese seine wundervollen Klavierstücke darbietet, einzelne Töne loopt und als fein ziselierten Geräuschteppich in seine Musik einbaut. Doch Sebastian Plano setzt den Höhepunkt. Allein auf der Bühne bedient er quasi sein Klavier und sein Cello gleichzeitig, setzt seine Loops als zweites Instrument ein, verfremdet und drückt schier eine unbegreifliche Zahl von Tasten und Pedalen, die überall auf seinen Instrumenten und dem Bühnenboden angebracht sind. Damit schafft er eine Wucht, wie ich sie vom geliebten Soundtrack zu "The Fountain" von Clint Mansell und dem Kronos Quartet erwischt hat.

A propos "The Fountain"; a propos Kino bzw. Kopfkino: Die Suggestion ist beim Denovali Swingfest ein ganz zentraler Rezeptionsaspekt. Wer nicht in der Lage ist, die Augen zu schließen, die Musik ganz auf sich wirken zu lassen und die innere Bildmaschine anzuwerfen - was auch deswegen nötig ist, weil die Künstler live kaum auf Visuals setzen und hinter ihren riesigen Reglerpulten für sich doch etwas verloren wirken - könnte Gefahr laufen, die Magie des Momentums nicht ganz zu erfassen. So rein optisch sind die Auftritte tatsächlich kaum spannend; im Bandformat gibt es kaum etwas zu sehen, und Bohren & Der Club Of Gore, die Großmeister des stoischen Düsterjazz, verstecken sich mit ihren Instrumenten auch noch unter kleinen Schummerleuchten.

Zurücklehnen ist angesagt. Und es sich gemütlich machen. Denn gestanden wird nicht beim Swingfest. Der Boden der Weststadthalle wird ab Freitagmittag zur imaginären Festivalwiese. Die Menschen sitzen oder liegen ausgestreckt da, die Augen geschlossen. Keiner spricht. Es ist fast schon ein Idyll, wäre da nicht die Dunkelheit, optisch und soundtechnisch. Brillant alles, melancholisch aber auch. Und eben suggestiv. Pan & Me, der den Freitag und somit den Hauptteil des Festivals eröffnet, gibt mit dem Titel seines aktuellen Albums, "Ocean Noise", eine gute Richtung vor. Seine Musik mäandert zwischen pluckernder Elektronik und elegischen Soundflächen, und getaucht in grünes Licht fühlt man sich tatsächlich ein bißchen so, als schwebe man in den Tiefen des Meeres, ohne zu ertrinken. Ein irrer Zustand.

Es folgen Ensemble Economique, bei denen das Ensemble im Namen live genauso wenig Bestand hat wie der Zusatz "& Me" bei seinem Vorgänger. Brian Pyle kreiert auf Platte eine sehr eigene, aber auch sehr fordernde Mixtur aus spukigem Noise, der live ungleich mehr beeindruckt. Als er die Stromgitarre herausholt und sie wie eine Säge durch die Schichten aus Loops, Beats und Samples schneiden lässt; als seine hintergründigen Vocals sich dazu gesellen, ist mehr als ein fasziniertes Starren nicht möglich. Es ist gut, dass Rafael Anton Irisarri nach ihm spielt. Dessen breitflächige Soundscapes, in denen sich auf den ersten Blick nur wenig tut, legen einem einen watteweichen Klangteppich vor die Füße, auf den man sich jetzt nur zu gern fallen lässt. Schon beim dritten Act ist man überwältigt wie dezent überfordert von so viel Großartig- und Kunstfertigkeit, fühlt sich, als wäre man schon mindestens drei Tage lang hier und braucht eine kleine Pause.

Die schlechte Nachricht folgt per Social Network: The Haxan Cloak, mit seinen unfassbar düsteren Doom-Klangflächen eigentlich heiß erwarteter Freitagshead, hat abgesagt. Demdike Stare hätten zwar sowieso gespielt, übernehmen aber die Rolle als Highlight des Abends. Die Briten lassen in ohrenbetäubender Lautstärke, unterstützt von psychedelischen Videoprojektionen, bedrohlich wummernde Beats mit atonalem Lärm auf die Zuhörer einhämmern. Das ist, gerade auch durch die optische Verstärkung, bei der ich immer wieder an Aphex Twin denken muss, skurril, bedrohlich und in jeder Hinsicht unangenehm, aber dadurch auch unglaublich spannend. Durch The Haxan Cloak hätte dieser Ausflug in abgründige Soundstrukturen sicherlich noch mehr Sinn ergeben; ob man noch aufnahmefähig gewesen wäre, sei aber dahin gestellt. Die Augen und Ohren sind voll. Pinch, den Haxan Cloak-Ersatz, schaffe ich nicht mehr.

Am Samstag ist der Kopf vollkommen eingestellt auf so viel Klangkunst. John Lemke ist allerdings als Einstieg in den zweiten Festivaltag auch denkbar gut geeignet. Bei dem in Glasgow lebenden Berliner regiert die Fusion aus Rhythmus und sphärisch verfremdetem Piano. Es folgen Origamibiro, und die setzen das erste richtig große Ausrufezeichen des Wochenendes. Mit einem Live-Visualisten experimentiert sich das Duo durch allerlei unorthodoxes Sound- und Bildmaterial, dessen Höhepunkt wohl eine alte Schreibmaschine bildet. Das klingt geisterhaft und dynamisch; durch die visuelle Verstärkung, die unter anderem das hektische Blättern durch antike Bücher und verblichene Fotos beinhaltet, wird eine wirre Zeitreise suggeriert, die man wie gebannt mitverfolgt und förmlich aufwacht, als das Trio seine Stunde beendet hat.

Piano Interrupted haben nach so viel Bild- und Tongewalt erstmal einen schweren Stand. Als sie mit ihren Klavierexperimenten in Cinemascope so richtig in die Gänge gekommen sind, müssen sie schon wieder aufhören, was ein bißchen schade ist. Jetzt werden die Ohren erstmal mit dem pop-nächsten verwöhnt, was dieses Wochenende aufgeboten ist: Die Slowakin Never Sol spielt ein mitreißendes Konzert; ihr angedunkelter Elektrofolk harmoniert vorzüglich mit ihrer tiefen Stimme, und es ist tatsächlich eine Wohltat, mal wieder echte Melodien zu hören, bei aller Liebe zum Experiment.

Eine große live-Überraschung sind Bohren und der Club of Gore. Wie stilvoll die Band seit Jahren düster-zurückgelehnten Slow Jazz zelebriert, war mir bekannt; die Helge Schneider-esken Ansagen zwischen den Stücken hatte ich jedoch nicht erwartet. Die Truppe stellt sich selbst als "die untätowierte Band aus Nordrhein-Westfalen" vor und rezitiert ein kleines Gedicht zum Tag der deutschen Einheit aus dem (geplanten?) Buch "Einfach und schlicht - warum nicht?". Das lockert die Dunkelheit ein bißchen auf und ist neben der zeitlos großartigen Musik eine schöne Abwechselung, auch angesichts der Tatsache, dass Kommunikation mit dem Publikum eher nicht so das Thema ist beim Swingfest. Es würde auch zu sehr die Magie des Moments zerstören, so in der Masse.

A propos Magie: Greg Haines kann das ja auch. Er ist einer der umtriebigsten Soundtüftler und Produzenten, die derzeit so unterwegs sind; hat neben den Alben unter seinem eigenen Namen unter anderem seine Finger in Projekten wie The Alvaret Ensemble oder Greg Gives Peter Space. Alleine schichtet er elektronische Flächen mit dezenten Beats auf und streichelt darüber zärtlich das Piano. Auch wenn der letzte Act des Abends, James Holden, viel verspricht: Greg Haines ist der perfekte Abschluss des Swingfest-Samstags.

Der Sonntag wird von Franz Kirmann eröffnet, der einen Hälfte von Piano Interrupted, mit seinem Soloprojekt. Der Mann hat reichlich cineastische Erfahrung beim Film gesammelt, nennt Filmkunstschaffende wie Wong Kar Wai oder David Lynch als Einflüsse für seine Musik. Heraus kommt erwartungsgemäß verträumt melodiöse Elektronik, dezent dunkel pulsierend und sehr angenehm, um mit geschlossenen Augen den Ausklang eines spannenden Wochenendes einzuleiten. The Eye Of Time markieren im Anschluss nochmal einen kleinen Höhepunkt. Der Franzose Marc Euvrie reflektiert mit diesem Projekt seine eigene Weltsicht und schreibt kleine Epen zu ausgewählten historischen Daten. Eine äußerst interessante Herangehensweise, die in einem Hybrid aus minimalen Samples, Streichern (vornehmlich Cello) und Klavierelementen; sehr traurig, sehr resignierend und durch diese dichte Emotionalität auch sehr zupackend.

The Samuel Jackson Five aus Norwegen machen Postrock. Und sind damit ein bisher noch viel zu wenig in Erscheinung getretenes Puzzleteil in einem lückenlos guten Aufgebot. Wie bei den meisten Postrock-Bands ist ihre Musik sehr suggestiv, aber sie funktioniert live ausnehmend gut durch den Drive, den sie mitbringt. Zum ersten Mal sehe ich das Swingfest-Publikum stehen. Es ist das letzte, was ich vom Swingfest sehe, denn danach ist Schluss. Der knapp vierstündige Heimweg und der Wecker am kommenden Morgen lassen mich schweren Herzens Hauschka, Ben Frost, Moon Zero und - am meisten schmerzlich - A Silver Mt. Zion verpassen. Es hilft alles nichts.

Doch zum Traurigsein besteht ja auch kein Grund. Denn an diesem Wochenende habe ich so viel faszinierenden Künstlern, Acts und Bands zugehört, dass ein Plus schön, aber nicht dringend notwendig gewesen wäre um ein restlos positives Fazit zu ziehen. Bemerkenswert ist halt auch das Konzept des Festivals, dass jeder Teilnehmer gleichermaßen eine Stunde zur Verfügung gestellt bekommt, um seine Musik zu präsentieren. Ein ideales Zeitfenster, denn egal wie groß der Name ist, zu erzählen hat jeder etwas auf seine Art, und weniger als eine Stunde wäre da einfach zu knapp bemessen; mehr aber vielleicht auch zu viel, denn die halbstündigen Pausen zwischen den Slots sind dringend nötig, um die Eindrücke zu ordnen und den Kopf wieder für die nächste Runde freizubekommen.

Das Denovali Swingfest ist ein anderes Festivalerlebnis. Es hat nichts zu tun mit den großen bunten Sommerevents, bei denen die Konzerte für die, die sie nicht sehen wollen, doch wenigstens eine angenehme Hintergrundbeschallung darstellen. Wer hier zuhört, hört bewusst und mit dem ganzen Körper zu; wer eine Pause braucht, steht an der frischen Luft und unterhält sich oder pflegt sich mit den ausschließlich veganen Gerichten, die das Team anbietet und die Doom Burger oder Experimental Chili heißen - doch das eine kollidiert niemals mit dem anderen. So viel Respekt ist für den vollständigen Genuss hier auch nötig.

Wer es schafft, sich auf diese Musik einzulassen, wird mit einem intensiven Kopfkinoklangteppich belohnt, der noch lange nachhallt. Die Dunkelheit und die Lautstärke dieser faszinierenden Sounds hüllen dich ein und geben dich erst beim Verklingen des letzten Tons wieder her. Und natürlich ist das auch anstrengend, weil es eben anders als bei Indiefestivals nicht um einen Soundtrack für den Moment geht, sondern im Zweifelsfall fürs ganze Leben und die innersten Regungen, was äußerst innig, aber auch sehr fordernd ist. Das ständige Abtauchen ist fast schon transzendentale Zustände ist eine Wahnsinnserfahrung, aber sie macht auch müde. Schön, dass man mit dem erwähnten sinnigen Tageskartenmodell auch für einen Kurztrip außerordentlich gut fährt.

Und natürlich hat das Wochenende die Vorfreude geschürt. Beladen mit neuen CDs und reich an neuen Erfahrungen und Eindrücken geht es in die einjährige Vorbereitungphase aufs Swingfest 2015.

Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass es wieder großartig wird.

 

Text und Titelbild: Kristof Beuthner