Artikel 28.12.2018

The Musikjahr was extremely colourful - Nillson-Jahrescharts 2018

Wieder ein Musikjahr geschafft! Oder hat es uns geschafft? Auf jeden Fall hat es eine Menge Anlass gegeben, großartige Momente zu erleben. In Stillstand und Exhaltiertheit, in Lärm und Stille, Begeisterung und andächtigem Staunen. Ich darf nun mit Freude die 30 Platten bekannt geben, die in den vergangenen 12 Monaten am meisten mit mir waren. Habt Spaß beim Lesen und Nachhören, Anderssehen und Aufregen! Die letzte Liste dieses bei Nillson an Listen nicht gerade armen Jahres: Gönnt euch!

Platz 30: Shotty Horroh - Salt Of The Earth

Wütend war Shotty Horroh schon immer, das äußerte er zuvor allerdings eher als reichlich brachialer Rapper. Nun kombiniert er seinen Rapstil mit Rockgitarren, und lebte man noch in den 90ern, könnte man seinen Sound Crossover nennen. Doch dafür stehen sich auf „Salt Of The Earth“ die beiden Pole nicht konträr genug gegenüber, vielmehr verschwimmen sie zu einem wirklich starken, ausdrucksstarken Ganzen, was wir so zuletzt - und das ist zugegeben ein großer Vergleich - bei Mike Skinner und seinen Streets gehört haben. Songs wie „Shudehill“, „Dirty Old Town“ oder „Danger“ sind schmutzige kleine Hits, in unnachahmlich britischer Weise dahin gebellt. Sollte man mehr von hören!

Platz 29: PeterLicht - Wenn wir alle anders sind

„Emotionale, auf zum letzten Verzicht! Die hinterfotzigen Systeme kommen jetzt ans Licht!“ - PeterLichts neuestes Werk fand zwischen Dadaismus, wunderschönen Popstücken und Kunstlyrik wieder eine Menge guter Wörter für versteckte oder offensichtliche Ohrfeigen. Einmal austeilen gegen all die Aufschneider und Fehlgeleiteten, die selbstverliebten Selbstoptimierer, die chronisch Unschlüssigen dieser Welt: Das ist „Wenn wir alle anders sind“, das legte Ängste und Egoismen, Fatalismen und Geltungssüchte frei. Am Leben bleiben ist die Devise, denn noch ist manches korrigierbar: „Ich glaub‘, wir haben was falsch gemacht - wir müssen uns wieder umentscheiden“.

Platz 28: Gregory Alan Isakov - Evening Machines

Der wunderbare und nach wie vor sträflich unterschätzte Kanadier zelebriert auch auf „Evening Machines“ wieder herrlich feinfühligen Americana-Country-Songwriter-Folk mit tiefer Melancholie und Wehmut. Der Multi-Instrumentalist aus Colorado thematisiert darauf seine Schlaflosigkeit und die daraus resultierende Kreativität, die beginnt, sich zu entfalten, wenn man kein Auge zu bekommt, aber die Störgeräusche des Alltags sich im Dunkel der Nacht verlieren. Ein wunderbares Album mit großen kleinen Hymnen ist „Evening Machines“ geworden, das Isakovs Bekanntheit vielleicht nicht steigern, seinen guten Status aber definitiv verwalten dürfte.

Platz 27: Ash - Islands

Tim Wheeler und Ash sind ein Phänomen. Seit 26 Jahren bringt diese Band alle paar Jahre eine neue Platte raus, auf der zunächst scheinbar nicht viel neues passiert - es sind wohl eher die kleinen Nuancen in Ashs ungebrochen energiereichen College-Rocks, die die Unterschiede ausmachen. Viel wichtiger ist jedoch, was die Platten gemeinsam haben. Sie sind nämlich nach wie vor wahre Hitfabriken, und davor kann man den Hut kaum tiefer ziehen. Auch „Islands“ macht da wieder keine Ausnahme: Der Powerpop von Songs wie „Buzzkill“ oder „Annabel“ ist unwiderstehlich, der Drive zupackend, die Tanzbarkeit voll auf Level. So darf es gerne noch lange weitergehen.

Platz 26: Birds Of Passage - The Death Of Our Inventions

Die Musik von Alicia Merz unter ihrem Alter Ego Birds Of Passage ist nach wie vor über jeden Zweifel erhaben und in ihrer Seltsamkeit nach wie vor einzigartig. Nach einigen Jahren Funkstille und den Vinyl-Re-Releases ihres Back-Katalogs via Denovali kamen wir 2018 endlich in den Genuss einer neuen Birds Of Passage-Platte. Verändert hat sich nicht viel: Alicia Merz klingt über ihren sparsam dahin getupften Synthie-Landschaften immer noch so, als hauche sie durch dichten Nebel, was ihrer Musik eine unheimlich erhabene Weltferne verleiht. Märchenhaft, morbide, betörend und düster: Alicia Merz ist und bleibt eine irrsinnig spannende Künstlerin.

Platz 25: Erik K Skodvin & Rauelsson - A Score For Darling

Während sich der grandiose Spanier Raúl Pastor Medall 2018 nach insgesamt fünfjähriger Release-Pause mit „Mirall“ auch ein neues Solo-Werk gönnte, hinterließ der gemeinsam mit Erik K. Skodvin komponierte Soundtrack zum Film „Darling“ insgesamt den größeren Eindruck. Auf „Mirall“ warf Rauelsson sich in elektronische Flächen und wabernde Soundscapes - „A Score For Darling“ kommt mit detailverliebten Piano-Sounds sehr minimalistisch daher und öffnet sich erst nach und nach einem breiteren Klangspektrum. Dabei bleibt der rote Faden durchweg spannend und nachvollziehbar; „A Score For Darling“ gehört unbedingt zu den schönsten Ambient-Platten dieses Jahres.

Platz 24: And The Golden Choir - Breaking With Habits

Für sein zweites Album, das Tobias Siebert - wie auch immer er das so schnell nach dem sehr intensiven Klez.e-Jahr 2017 auf die Beine gestellt hat - als And The Golden Choir aufgenommen hat, verzichtet er auf das ganz und gar introvertierte Produktionssystem. Bei seinem Debüt hatte er noch alle Instrumente einzeln aufgenommen und auf Vinyl gepresst; für „Breaking With Habits“ gönnte er sich nun eine Band. Das Ergebnis bleibt in wunderbarer Tradition das Gleiche: Ein goldglänzender Mix aus Folk, Gospel, Artpop und unwiderstehlicher dramaturgischer Brillanz. Das lässt Tobias Siebert zweifellos in die Sphären dieses anderen Tausendsassas namens Konstantin Gropper aufsteigen.

Platz 23: Roo Panes - Quiet Man

Die immer größer werdende Popularität des Briten lässt ihn Gott sei Dank nicht größenwahnsinnig werden. Roo Panes‘ drittes Album „Quiet Man“ möchte nicht den nächsten Schritt machen und die Zielgruppe erweitern, es geht sogar noch einen wenn nicht gleich mehrere Schritte zurück und präsentiert die warme, sonore Stimme des Künstlers eingebettet in samtschwarzen und äußerst zurückgezogenen Songwriter-Folk. Der Titel der Platte macht ihr wahrlich alle Ehre: Zurückgezogen und nachdenklich, wunderbar beruhigend und zutiefst in sich ruhend ist „Quiet Man“ ein wunderschönes Album geworden, dessen faszinierendem Sog man sich kaum entziehen kann.

Platz 22: Fatherson - Sum Of All Your Parts

Die Schotten von Fatherson besannen sich nach dem wirklich tollen Debüt „I Am An Island“ und dem dann leider viel zu radiotauglichen Nachfolger „Open Book“ wieder auf ihre Wurzeln und wollten das dritte Album „Sum Of All Your Parts“ wieder rauer und wilder klingen lassen. Das ist nur zum Teil geglückt, dafür findet die Platte ihre Mitte in den Stärken ihrer beiden Vorgänger. Und auch in den Schwächen. Doch starke Hymnen schreiben können Ross Leighton und seine Jungs immer noch. Da wären beispielsweise „Charm School“ und „Making Waves“, um nur zwei zu nennen: Große Geste mit herrlichen Riffs, dazu Leightons schmachtendes Organ. Ein Fest für die Ohren.

Platz 21: Bayuk - Rage Tapes

Völlig abgefahrener Typ, dieser Bayuk: Aus dem Vorprogramm von so völlig unterschiedlichen Bands und Künstlern wie Klez.e, Me & My Drummer oder Maeckes bekannt, war es schwierig, seinen Freunden von seiner Musik weiterzuerzählen, weil es einfach zu schwer zu kategorisieren war. Gut, dass man ihnen nun einfach Bayuks LP-Debüt „Rage Tapes“ in die Hand drücken konnte: „Müsst ihr selbst hören!“ Britpop, Postpunk, Wave, Folk, Industrial, Electronica: Die Liste an Einflüssen, aus denen sich Bayuk in herrlich avantgardistischer Manier für seinen Sound bedient, könnte noch länger fortgeführt werden. Ein herrlich sperriges, strapaziöses und hochgradig faszinierendes Album.

Platz 20: Juse Ju - Shibuya Crossing

Dank Papas Job in Tokyo aufgewachsen, Underground und Freestyle-Rapper, Sprayer, dann Journalistenschule und Radio-Moderator: Juse Ju hat schon eine Menge gesehen und braucht zum Glück weder Ghetto- noch Hipster-Romantik, um mit seinem Rapsound zu glänzen. Ohne unnötige Selbstprofilierung, dickes Auftragen, Cloudrap-Quatsch oder Pop-Anbiederungen bringt Juse feine Grooves und noch feinere Texte an den Start. Er macht aber auch aus seiner Intelligenz keinen Hehl und ist somit endlich mal wieder einer, der ohne übersteigerte Egozentrik deutlich werden lässt, wie sehr wir wortgewandte Finesse im Rap vermisst haben. Die beste Rap-Platte des Jahres!

Platz 19: The Boxer Rebellion - Ghost Alive

Jedes Album der Briten um Nathan Nicholson klingt anders, das ist wunderbare Tradition im Duktus von The Boxer Rebellion, und so verhält es sich auch mit dem stark in sich gekehrten „Ghost Alive“, das mit einer ganzen Menge unstetem Innenleben des charismatischen Bandkopfes aufräumt. Dafür verzichten The Boxer Rebellion nun ganz und gar auf synthetische Postpunk-Elektronik und präsentieren sich dafür in feinstem Folk-Gewand. Verwunderung über politische Zustände der Welt bricht sich in „What The Fuck“ Bahn, der Weg zur Selbstakzeptant trotz aller Schwächen ist Thema von „Love Yourself“, und auf „Here I Am“ ist die Band Sigur Rós so nah wie noch nie.

Platz 18: John Metcalfe - Absence

Der große John Metcalfe hat mit seinem fünften eigenen Album ein äußerst faszinierendes Manifest über das Festhalten und Loslassen im Allgemeinen und den Tod seines Vaters im Speziellen geschrieben. Dabei ist die stilistische Bandbreite des Violinisten, der unter anderem schon mit Coldplay und Max Richter gearbeitet hat, enorm: Von Celtic Pop über majestätischen TripHop und energetischen Postrock à la Gregor Samsa reicht die Palette, und alles vereint sich unter den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Virtuosität, die das so schwer definierbare Genre der Contemporary Classic bietet, zu einem mitreißenden, höchst einnehmenden Ganzen.

Platz 17: Leoniden - Again

Das musst du erstmal bringen: Gefühlt kein Sommerfestival auslassen und ganz nebenbei schon ein Jahr nach dem immer noch total starken Debüt schon den Nachfolger raushauen. Aber die Leoniden aus Kiel können, dürfen und machen derzeit alles. Und auch „Again“ beweist eindrucksvoll, warum das einfach die derzeit derbste Band dieses Landes ist: Die stilistische Bandbreite ist zwischen Funk, Elektronic, R’n‘B, Indiepop und, und, und nach wie vor enorm, wenngleich sich „Again“ vielleicht etwas mehr dem Pop öffnet - aber wenn Pop so klingt, nehme ich ihn gerne mit. Ein Album voller mitreißender und definitiv auch überraschender Momente, und wer die Leoniden noch nicht live gesehen hat, der muss das 2019 endlich nachholen.

Platz 16: Jonathan Jeremiah - Good Day

Man kann und sollte unbedingt mit der Welt hadern, in diesen Zeiten mehr denn je. Für die Momente zwischendurch, in denen man Luft holt und sich auf die Dinge besinnt, die dann doch ganz schön sind, hat Jonathan Jeremiah ein Album geschrieben, das sonnendurchflutet und entspannt davon erzählt, wie es ist, auch mal Loszulassen. Ein Recht auf die glückliche, positive Nische in unserer Existenz haben wir ja schließlich alle. Und bei diesem zwischen Folkpop und Gospel, 60s-Soul und unwiederstehlichem Groove pendelndem Prachtwerk fällt es wirklich schwer, nicht über das ganze Gesicht zu strahlen. Eine wahre Wohltat und Balsam auf unsere Seelen.

Platz 15: Yungblud - 21st Century Liability

Von nicht wenigen Musikmedien als heißer Scheiß gehandelt, kann man bei Yungbluds theatralischer Lunatic-Attitüde als etwas erfahrenerer Musiktyp eigentlich nur milde lächeln. Der britische Indie-Rapper lässt sich gerne geschminkt wie der Joker in Zwangsjacken fotografieren und portraitiert so eine Gesellschaft, die vor die Hunde geht und in der der Wahnsinn so alltäglich geworden ist, dass wir ihn kaum noch wahrnehmen. Die Platte ist aber ein so reizvoll brodelnder Mix aus Hip Hop, Grime und Indie Rock, dass man sich ihrer Catchiness nur ganz schwer entziehen kann. Mit „Polygraph Eyes“, „Anarchist“ oder „I Love You, Will You Marry Me“ ist „21st Century Liability“ außerdem gespickt voll mit Hits, wie ich es lange auf keinem Debüt mehr gehört habe.

Platz 14: Staring Girl - In einem Bild

Das wunderbare zweite Staring Girl-Album hat fünf Jahre und eine komplette Bandumbesetzung gebraucht, um Realität zu werden. Steffen Nibbe hat sich mit drei Ex-Bandmitgliedern von Gisbert zu Knyphausen und Ove-Schlagzeuger Robert Weitkamp verstärkt und erzählt zwölf wunderbare Geschichten über das Ankommen, irgendwo, am besten dort, wo man glücklich ist. Das tut er mit der lyrischen Eleganz eines Niels Frevert und klanglich irgendwo zwischen organisch-purem Folkpop, der manchmal herrlich scheppert und dengelt, und auf „Vor meiner Tür“, einem der stärksten Stücke der Platte, sogar nach frühen R.E.M. klingt. Schön, dass Staring Girl wieder da sind.

Platz 13: William Fitzsimmons - Mission Bell

Wo William Fitzsimmons draufsteht, ist William Fitzsimmons drin. So gesehen bot auch sein neuestes Werk „Mission Bell“ wieder absolut gar keine Überraschung und nichts Unerwartetes. Der langbärtige Barde leidet ein weiteres Mal an der Welt und einer zerbrochenen Beziehung, und weil er das so unnachahmlich gut kann, gießt er diesen Schmerz erneut in wunderbar samtweiche Songs zwischen Americana, Songwriter-Pop und purem Folk, getragen von seiner herrlich innigen Stimme. Songs wie „Second Hand Smoke“, „Distant Lovers“ oder „Angela“ sind edelst geschriebene Popsongs, feinfühlig und intensiv, und so gesehen ist es absolut nicht schlimm, dass „Mission Bell“ einem so gar nichts neues bietet.

Platz 12: Gorilla Club - 1, 2, 3, 4

Die Locas In Love waren von ihrem Beitrag zum letzten „Unter meinem Bett“-Sampler so angefixt, dass sie kurzerhand eine ganze Kinderlieder-Platte kreierten und sich dafür kurzzeitig in Gorilla Club umbenannten. Verstärkt um eine irre Zahl toller Künstler wie Cico Beck, Gisbert zu Knyphausen oder Deniz Jaspersen haben Björn Sonnenberg, Stefanie Schrank und Co. wunderbare Songs geschrieben, die uns Erwachsenen fast genauso viel erzählen wie den Kindern, die an Stücken wie „Mach die Taube“, „Das ist meine Band“, „Nicht müde“ oder „Manchmal“ nicht nur viel Freude haben dürften, sondern auch mehr daraus ziehen werden als am teilweise unerträglichen 08/15-Kinderlieder-Matsch weitaus berühmterer Interpreten.

Platz 11: Slothrust - The Pact

Slothrusts viertes Album „The Pact“ erweitert die nahezu perfekte Grunge-Basis ihres Vorgängers „Everyone Else“ um eine unwiderstehliche Prise Pop. Und wer nicht glauben wollte, dass die Band dadurch noch mitreißender und zupackender werden würde, sah sich in Songs wie „Planetarium“, „Peach“ oder „Birthday Cake“ eines besseren belehrt. „The Pact“ entledigt sich Stück für Stück dem dreckigen Sound, den Slothrust zu ihrem Trademark gemacht hatten, und entfaltet einen ungeheuren Groove durch die klare Gegenüberstellung von Gegensätzen. Lärm und Wohlklang, Innehalten und Eskalation, Coolness und Selbstzweifel. Das macht „The Pact“ wohl zu Slothrusts bisher Besten.

Platz 10: Nils Frahm - All Melody

Nils Frahm in eine Sparte zeitgenössischer Avantgarde-Musik einzuordnen, muss fehlschlagen. Weil der Workaholic sich so zuverlässig jeglichen Kategorisierungen entzieht; weil er seine Kunst aus immer neuen und immer anderen Inspirationen speist. Kunst, das macht Nils Frahm mit „All Melody“ klar, ist immer auch ein Resultat aus dem Umfeld, in dem Kunst geschaffen wird. Und weil das im Fall von Nils Frahm eine wahre Horde an befreundeten oder kollegial verbundenen Musikern sowie mit einem neuen Tonstudio im Funkhaus Berlin auch ein neues räumliches Umfeld bedeutet, sind die Kompositionen auf „All Melody“ so variantenreich wie aufregend geworden. Electronic Beats treffen auf Choräle, schwelgerische cineastische Klangästhetik auf Solo-Piano, Ambient auf technoide Soundscapes. Alles verschwimmt ineinander, greift einander auf, lässt neues Entstehen: „All Melody“ ist ein in jeder Hinsicht aufregendes neues Kunstwerk von Album, das zeigt, warum dieser Typ ein immer größer werdendes Publikum auf seine Seite holt. Dass aus den Sessions für „All Melody“ Stücke für 20 mögliche weitere Alben hervorgegangen sein sollen, macht zudem mächtig Appetit.

Platz 9: Get Well Soon - The Horror

Und wieder öffnet uns Konstantin Gropper eine Tür in seinem von Geheimgängen, Falltüren, prachtvollen Sälen, pompös-barocken Kammern und düsteren Verliesen reichen Sound-Kastell. Auf „The Horror“, das ist nicht schwer zu erraten, geht es um die Angst. Und die stellt sich, wie so viele Gefühlslagen, die Gropper in seiner Kunst seziert, in vielen verschiedenen Lesarten dar, die „The Horror“ im neuen Klangformat - Konstantin Gropper holte sich erstmals eine Big Band dazu - bis ins kleinste Detail dramaturgisch klug durchdacht präsentiert. Drei Alpträume Groppers waren der Auslöser für dieses abermals unheimlich intensive, opulent instrumentierte Prachtstück von Album, das mit der Ankündigung in Form von psychologischen Sitzungen und verstörenden Kurzfilmen eine neue audiovisuelle Ebene erlangte. Dabei ordnet sich erstmals die Klasse der einzelnen Songs und ihre Funktionalität als Singles dem Gesamtkunstwerk unter - das ist leicht zu verschmerzen, weil „The Horror“ als Konzeptalbum wunderbar funktioniert und seinen Höhepunkt in unvergesslichen Darbietungen wie etwa in der Hamburger Elbphilharmonie fand.

Platz 8: Ruston Kelly - Dying Star

Mit Country konnte ich nie viel anfangen. Mit countryfiziertem Songwriter-Folk hingegen schon. Als Ruston Kelly mit seinem „Dying Star“ im Booking-Roster des Reeperbahn-Festivals auftauchte und diesen Mix leicht stärker in Richtung Country tendieren ließ, diesem aber einen herrlichen Folk-Appeal angedeihen ließ, der zwischenzeitlich an die Rock-Verliebtheit der Counting Crows erinnerte, kriegte mich das. Der Typ aus Nashville of all places schrieb Melodien, die ein Adam Duritz auch gut hätte singen können; er wandelte inhaltlich zwischen Sodom und Gomorrha und dem gelobten Land auf einer alkoholschwangeren Sinnsuche quer durch die vereinigten Staaten. Das hatte Stil und eine Menge hemdsärmeligen Charme; verweigerte sich auch dem Autotune nicht und spannte damit eine durchaus faszinierende Brücke zwischen Tradition und Moderne. „Son Of A Highway Daughter“ war ein Monsterstück in seiner Dramaturgie, „Faceplant“ oder „Jericho“ sind Roo Panes-nahe minimalistische Folkstücke, „Big Brown Bus“ und „Mockingbird“ wunderbare Popsongs. Hohe Songwriter Kunst mit Slayer-Shirt und Cowboy-Hut, dargeboten mit rostroter Erdigkeit und gerade dem richtigen Maß an Verletzlichkeit und Katharsis machten „Dying Star“ zu einer grandiosen Americana-Platte, die ich sicherlich noch lange gerne hören werde.

Platz 7: Das Paradies - Goldene Zukunft

Florian Sievers kennen wir noch von seiner „Hauptband“ Talking To Turtles. 2018 machte er sich selbstständig mit dem Projekt Das Paradies und sang nun auf Deutsch, kein großes Ding, diesen Weg gehen viele - aber so kluge Texte und so selbstverständlich leichtfüßigen Sound hatte man seit der elenden Diskussion um eine Deutschquote im Radio vor etwa 15 Jahren nicht mehr in deutscher Sprache serviert bekommen. Entsprechend umjubelt wurde dann auch das Album „Goldene Zukunft“, auf dem Florian Sievers mit satter Ironie die Zustände in dem seltsamen Apparat namens Leben kommentiert. Wie auf der famosen Single „Discoscooter“, in der die immer schneller rotierende Leistungsgesellschaft wie ein bunt flimmernder Jahrmarkt Jubel, Trubel und Heiterkeit verheißt, während die die Menschen als Humankapital sukzessive aussaugt: „Sind das noch Windkraft - oder Erdantriebspropeller?“ Dass das Ganze nicht bedeutungsschwanger in Düsternis versank, sondern trotz ursprünglich schwerer Themen locker-leicht wie eine deutsche Version von The Whitest Boy Alive daher kam, ist Florian Sievers hoch anzurechnen: Auch Songs wie „Die Giraffe streckt sich“ oder der Titeltrack sind kleine Hits mit hohem Wiedererkennungswert.

Platz 6: Spanish Love Songs - Schmaltz

Die Emo-Platte des Jahres mit ihrem etwas seltsamen Titel kam von den Spanish Love Songs, und das ist insofern eine Kunst, weil der Wust an großartigen Veröffentlichungen aus diesem wiederbelebten Genre inzwischen zu einer gewissen Übersättigung geführt hat. Man hat so vieles gehört was einen zurück auf die Seite der Holzfällerhemden mit dem traurigen Blick geführt hat, The Hotelier, The Menzigers, Modern Baseball, Sorority Noise und wie sie alle heißen haben bemerkenswerte Platten veröffentlicht, aus deren hoher qualitativer Dichte es immer schwerer fällt, hervorzustechen. Den Spanish Love Songs ist es gelungen, durch das genau richtige Maß an Wut, Depressivität und in den Himmel gereckter Faust eine Hymnenhaftigkeit zu erreichen, die trotz der vielen Mitstreiter nachhallte. Dylan Slocum beginnt dieses Album mit den Worten „Is there any way to give a shit?“ und beendet es mit „So when you wake up and you know you’ll never be better - hide under your sheets, your room will always be a mess“. Diese letzten Zeilen gehören zu dem unendlich intensiven Rausschmeißer „Aloha To No One“ - davor hat man ein ganzes Album lang mit der Band gegen die Unwegbarkeiten des Lebens angekämpft und angebellt, um am Ende ermattet von der Gefühlslast ein weiteres Mal auf „Play“ zu drücken. Das ist ganz, ganz stark.

Platz 5: Federico Albanese - By The Deep Sea

Für Federico Albanese war 2018 ein gigantisches Jahr. Endlich so richtig raus aus den kleinen Nischen-Clubs mit einem Piano führte ihn der Weg geradeaus in die große Elbphilarmonie mit einem Flügel in jedem Backstage-Raum. Nicht ganz unschuldig daran war natürlich die Klasse von Albaneses drittem Album „By The Deep Sea“, einer konsequenten Fortführung des narrativen Spektrums, das der Wahl-Berliner auf „The Houseboat & The Moon“ und „The Blue Hour“ schon angerissen hatte. Es beginnt mit „682 Steps“ - so viele Schritte sind es vom Haus von Federico Albaneses Mutter, bis man einen kleinen Fels am Meeresufer erreicht hat. Der Anblick, der sich einem dort bietet, inspiriert den Pianisten bis heute tief. Die Suggestion ist und bleibt seine Stärke - darum ist „By The Deep Sea“ auch weniger ein Album über das Meer geworden; es geht vielmehr um die tiefe unergründliche See, die in uns allen wohnt. Das klingt instrumental breiter aufgestellt als sonst, mit mehr Elektronik und Streichern über dem gewohnt mit repetitiven Mustern einen beinahe hypnotischen Sog entfaltenden Klavier, und es ist wieder wunderschön und feinfühlig inszeniert. Federico Albanese wird immer besser - der Erfolg gibt ihm Recht.

Platz 4: Kamasi Washington - Heaven & Earth

Nach dem übergroßen Prachtwerk „The Epic“ war es 2018 endlich Zeit für ein neues Opus Magnum des imposanten Jazz-Saxofonisten Kamasi Washington. Dem allein es anheim steht, zumindest wenn man der Musikpresse glaubt, das durch das Alter seiner Epigonen langsam aussterbende Genre des Jazz zu retten. Eine immense Verantwortung, zumal Washington auch auf „Heaven & Earth“ abermals nicht gerade kleine Brötchen backt. Ein Doppelalbum musste es schon wieder werden, und wer sich getraute, mit einem scharfen Messer den zugeklebten Mittelteil des Digipaks aufzuschneiden, fand sogar eine dritte CD darin. „Heaven & Earth“ präsentiert Washingtons Lesart des Jazz mit einem treibenden, mitreißenden und überwältigenden Genre-Stilmix aus Blaxploitation-Funk, Cinemascope-Bombast, Gospel, Latin-Flavour und Psychedelia; ein brodelndes, lauerndes Biest, das über seine lange Laufzeit nicht ein einziges Mal die Klauen lockert. Stücke wie „Street Fighter Mas“, „Fists Of Fury“ oder das grandiose „Vi Lua Vi Sol“ sind kein bißchen weniger „epic“ als der Vorgänger. Und über allem steht die hippieske Fantasie einer Welt, vereint in Liebe und Frieden. Ein Meisterwerk.

Platz 3: Thomas Dybdahl - All These Things

Der Norweger Thomas Dybdahl steht kurz vor der 40 und zieht Bilanz über sein bisheriges Leben. Er stellt fest, dass die Zeit vergangen ist wie im Flug - und womöglich ist sein Leben gerade jetzt genau halb vorbei. Da kann man auf der einen Seite über viele Dinge - wie seine Kinder - sehr glücklich sein und auf der anderen Seite über all die verpassten Chancen und unrevidierbaren Dinge das heulende Elend kriegen. Inmitten dieser Gemengelage überrascht es kein bißchen, dass Dybdahls siebtes Album „All These Things“ sehr erwachsen und reif und natürlich auch sehr nachdenklich klingt. Zum Glück hört es sich aber nicht nach Midlife Crisis an. Vielmehr strahlt es vor technischer Brillanz und zeitlosen Arrangements; Songs wie „Can I Have It All“ oder „Look At What We’ve Done“ mäandern zwischen Songwriter-Folk, samtschwarzem Blues und dezentem Jazz und bilden im Zusammenspiel mit Dybdahls mal gehauchten, mal falsettierten Vocals den genau richtigen Rahmen für seine reflektierten Gedankenwelten. „All These Things“ ist ein sehr zurückgelehntes und entspanntes Album geworden, eines für den einsamen Hocker an der Bar zwischen Zigarettenrauch und einem guten Tropfen oder dem verlorenen Blick aus dem Fenster ins Dunkel.

Platz 2: Theodor Shitstorm - Sie werden dich lieben

Desiree Klaeukens und Dietrich Brüggemann haben sich gefunden, er hat sie zum Film gebracht und sie ihn zur Musik, und herausgekommen ist ein gemeinsames Baby namens Theodor Shitstorm, das in Windeseile jugendlich und neunmalklug geworden ist. So schnell kannste ja manchmal gar nicht kucken. Aber in dem Sound, den Theodor Shitstorm kreieren, wird so weise und waidwund, so ironisch und feingeistig dieses seltsame Leben zu erklären versucht, dass man ein gelegentliches Scheitern gerne in Kauf nehmen mag. „Alles, was du weißt, passt in einen Satz, aber den hast du vergessen und dein Kopf ist leer, du bist klug und gebildet und du weißt überhaupt nichts mehr“, singen Theodor Shitstorm in ihrem „Ratgeberlied“, und das ist so schön pointiert, dass man nur lächelnd mit den Schultern zucken mag und mit einem Becher Wein aus dem Tetrapak darauf anstößt, dass man wenigstens noch sich selber hat. Klanglich kommt das Ganze spartanisch instrumentiert daher, Gitarre und Laptop werden von Bass und Schlagzeug nur sporadisch ergänzt, man denkt zuweilen an Element Of Crime und Fink und manchmal auch an den frühen Gisbert, aber dem Vergleich hält die Textband Theodor Shitstorm locker stand, weil endlich mal wieder jemand über die Dinge so spricht, wie sie es tun.

Platz 1: Altin Gün - On

Ein herrlich unwahrscheinlicher Platz 1, Altin Gün. Die Story geht so: Jasper Verhulst, Niederländer, Bassist, reist nach Istanbul und taucht tief ein in eine Musikszene, in der einst türkische Folklore durch die Beigabe von Funk, Rock und Psychedelia modernisiert wurde. Die Musiker, die Verhulst im Anschluss an seine Reise durch Anzeigen zusammentrommelte, möchten ein Bindeglied zwischen Tradition und Moderne sein und die Leute zum Tanzen bringen. Politisch, nein. Kosmopolitisch? Okay, das passt. So vertonen Verhulst, Gitarrist Ben Rider, Gino Groeneveld am Schlagzeug und das türkischstämmige Vocal-Duo Erdinc Yildiz Ecevit und Merve Dasdemir türkische Klassiker von Erkin Koray oder Selda Ba?can neu, entwickeln aber auch eigene Stücke, die alle eines gemeinsam haben: Den brodelnden Mix aus türkischer Folklore und psychedelischem Funk. Und der Mix geht durch die Decke wie nichts. Man tourt in der ganzen Welt, die Leute feiern das, natürlich steht bei den Live-Shows keiner still. Und das Album „On“, das im März 2018 erschienen ist, ist tatsächlich das faszinierendste Stück Musik, das ich in diesem Jahr hören durfte. Beim Appletree Garden war ich hin und weg von der Live-Präsenz Altin Güns, von dem ungeheuer tanzbaren Groove, den die Band entfaltete. Das sucht derzeit in der Popkultur seinesgleichen vergeblich. Beim Reeperbahn Festival stand der Kaiserkeller Kopf, alles tanzte, der Schweiß tropfte von der Decke. Wahr ist: Das ist dann wiederum auch nicht jedermanns Sache, und bei manchem sorgte ich mit meiner Begeisterung für Altin Gün durchaus für Kopfschütteln. Das ist schon gegen manche Hörgewohnheiten, aber es reißt auch ungeheuer mit. Die Platte verschwand über Monate nicht aus meinem Player im Auto, diese Musik macht enorm glücklich, und wenn es ein seltames One Hit Wonder ist, dann habe ich definitiv meine Freude daran gehabt - und ihr solltet es dringend auch mal probieren. Altin Gün, „On“: Die Platte des Jahres 2018.



Text: Kristof Beuthner