Rezensionen 08.09.2015

Max Richter - from SLEEP [Deutsche Grammophon / Universal]

Der wunderbare britische Komponist Max Richter schenkt uns, wenn es nach ihm geht, das intensivste Schlaferlebnis unseres Lebens. Dabei ist es nicht einmal nötig, dass wir ihm über die volle Länge seines neuen Werks bewusst zuhören.

Das ist nämlich acht Stunden lang und gar nicht dafür gemacht, dass wir aktiv lauschen, sondern dass wir dabei einschlafen und quasi mit dem passiven Genuss seiner Musik ein neues Level an Traumwandlerei und Assoziation erhalten. Als das Stück in Berlin in seiner Gesamtheit (!) uraufgeführt wurde, standen für das Publikum keine Stühle sondern tatsächlich Betten bereit, und zwei Tage vor dem Release konnte man "Sleep" volle acht Stunden im Internet streamen, dabei einschlafen und im Anschluss seine Träume posten. Ein interaktives Erlebnis, das darüber funktioniert, dass man am besten so wenig wie möglich davon bewusst mitbekommt - eine spannende Sache.

Max Richter hat "Sleep" im Laufe von zwei Jahren komponiert, und es ist ein enorm persönliches Projekt für ihn. Ausschließlich nachts arbeitete er daran, weil er tagsüber die Ruhe nicht fand. Nacht und Schlaf - auch voneinander losgelöst sind die beiden höchst interessante Themenbereiche, um ihnen Musik zu widmen. Die Nacht als still und dunkel ruhender Pol, die zugleich Verlassenheit und Geborgenheit impliziert - mein Vater empfindet bis heute den Satz eines Sprechers der Spätnachrichten, der den Zuschauern wünscht, gut durch die Nacht zu kommen, als ungemein tröstlich. Die Nacht reduziert uns auf das Wesentliche, wenn wir mit uns allein sind, sie bietet mehr Ruhe als Ablenkung; wir führen nachts die besten Gespräche und denken die tiefsten Gedanken. Andersherum: Der Schlaf, die Quelle unserer Energie, darin die Träume, der Spiegel unseres Unterbewussten. Was wir träumen sollen, möchte uns Max Richter gar nicht vorschlagen mit seinem achtstündigen Wiegenlied, dass physisch reduziert auf eine Stunde Spielzeit (digital gibt es auch die kompletten acht Stunden) mit "from SLEEP" einen festen Platz in unseren Schlafzimmern haben soll. Konzipiert für Streicher, Piano, dezente Elektronik und Gesang (wobei es aber keinen Text gibt, sondern eher elfengleichen Singsang) soll das Projekt eher die Träume aus uns Zuhörern herauskitzeln, das Unterbewusstsein durch die sanften und kontemplativen Sounds antriggern. Das steht in bester Tradition von beispielsweise Bachs Goldberg-Variationen oder Mahlers Nachtmusik und ist somit ohne jede Suggestion völlig individuell interpretierbar, im Idealfall sogar erst dann, wenn man die Musik ihrem beabsichtigten Zweck zugeführt hat. Musik, die also konzeptionell von vornherein etwas mit uns zu tun hat, ohne uns zu kennen - und nicht erst dann, wenn wir die Aussage des Künstlers für unser eigenes Inneres instrumentalisieren.

Aber auch, wenn man nicht dazu schläft, ist "from SLEEP" ein Hochgenuss. Max Richter arbeitet innerhalb der einzelnen Stücke viel mit repetitiven Phasen, die tatsächlich eine so beruhigende Wirkung entfalten, dass man den Kopf auch beim aktiven Zuhören auf Reisen schicken mag. Die Zärtlichkeit der sieben Stücke sorgt für eine so berückende Intensität, als würde man von unsichtbaren Armen gehalten, die einem zuflüstern: Hier bist du sicher. Man muss nicht schlafen um zu träumen - so gesehen ist "from SLEEP" gegenüber dem achtstündigen Gesamtwerk genauso gut ein kathartischer Ausflug in die Tagtraumwelt und eine perfekte Gelegenheit, den Rush des eigenen Lebens für eine Stunde auszusetzen. Ein Meisterwerk - und ein weiterer Beweis für die stille, aber immense Größe des Max Richter.


Text: Kristof Beuthner