Artikel 23.06.2015

Liebes Hurricane.

Nach satten sechs Jahren habe ich dich in diesem Jahr mal wieder besucht. 2005 war ich zum ersten Mal in Scheeßel; das rief nach einem Jubiläum. Jetzt möchte ich dir ein paar Worte schreiben.

Zunächst erkläre ich dir vielleicht mal, warum ich so lange weg war. Das lag vor allem daran, dass du dich über die Jahre immer mehr von einem Festival zu einem Event entwickelt hast. Einem, auf das man nicht mehr primär wegen der Musik fährt, sondern wegen der Party, die sich auf den Campingplätzen immer absurder in Richtung Ballermann-Style und Atzen-Action bewegt hat und das durch stets chartsorientierteres Booking auch in seinem Standing gefüttert wurde. 70.000 Menschen müssen ja auch erstmal gefunden und zufrieden gestellt werden. No offense, jeder so, wie er mag - es war einfach nur für mich der Punkt, an dem ich ausstieg. Vielleicht steckte ich auch einfach - und stecke bis heute - in der Früher-war-alles-besser-Falle. By the way: Klar feier ich trotzdem diese Typen, die dieses Jahr ein großes Real-Life-Looping-Louie gebaut haben. In solchen Momenten paart sich geniale Kreativität mit dem eventgeilen Lifestyle. Aber ich vermute auch, dass ich das Ding am Wochenende nicht mal dann wahrgenommen hätte, wenn ich auf dem selben Campingplatz gewesen wäre.

Denn als Musikliebhaber kann und darf es den Moment nicht geben, an dem ich nicht mehr wegen der Musik auf ein Musikfestival fahre. Ich meine - der Name sagt doch schon, worum es dabei eigentlich gehen sollte. Und auch, wenn Musik natürlich ein sehr allgemeiner Begriff ist, fand ich doch, dass die immer größer werdende Bandbreite (beispielsweise durch das Hinzunehmen der elektronischen White Stage) eher ein Zugeständnis an die Masse war als eine Positionierung mit individuell ausgerichtetem Booking. "Rockfestival adé", las man dann oft von frustrierten Menschen. Der Punkt ist halt: Eine zu große Bandbreite sorgt in der Regel schnell für Gesichtslosigkeit. Und so wurdest du, liebes Hurricane, für mich als Musikliebhaber gesichtslos.

Hinzu kam unterstützend natürlich auch ein popkulturelles Phänomen. Denn "Indie", sofern man das als musikalische Kategorie überhaupt verwenden darf, wurde auf einmal vom Mainstream gemolken. Eine der letzten Kühe, die die Industrie noch nicht geschlachtet hatte. Werbespots von Klamotten- und Mobiltelefonherstellern waren plötzlich voll von dieser sexy Gitarrenmusik und von dem, was es sich in der Schnittstelle zwischen Rock und Elektronik gemütlich gemacht hatte (und so ist es immer noch). Indie hören war salonfähig geworden, und aufstrebende kleine Bands durften sich dank der Industrie und des Internets endlich berechtigte Hoffnung machen, tatsächlich mit ihrer Nischenmusik Geld verdienen zu können. Die Grenze zwischen Indie und Mainstream verschwamm mehr und mehr und ein Festival wurde zum Massenphänomen. Das mussten alle mal gemacht haben. Die Party! Der Lifestyle! Die Bands sind ja bis auf die Headliner egal, aber die Stimmung auf den Campingplätzen, der Hammer! Modemagazine entwarfen Festival-Styles für teuer Geld. Die letzte abgerissene Jeans, das Bandshirt und die Chucks, die alle gerne auch bei schlechtem Wetter versaut werden durften, hatten weitgehend ausgedient. H&M-gesteuerte Looks und ulkige Kostüme (siehe Morphsuits) waren der neue Chic. Hauptsache auffallen. Heute hat H&M einen eigenen Store auf dem Hurricane, vor dem eine absurd lange Schlange steht. Und im gleichen Jahr zum Hurricane und auf ein Scooter-Konzert zu fahren, ist für viele überhaupt nichts Ungewöhnliches mehr. Ich hab die Plakate gesehen, neben denen von Revolverheld.

Das alles brachte jedenfalls eine ganz neue Zielgruppe auf die Idee, mal bei dir vorbeizuschauen. Auf einmal spielten Bands am Eichenring, für die man in deinen frühen Zeiten noch kräftigst ausgelacht worden wäre. Katy Perry schoss 2009 den Vogel ab. Revolverheld folgten ein Jahr später. Und auch für andere bedeuteten Chartserfolge jetzt Veränderungen: Die Kings Of Leon bekamen allein wegen des großen Fames mit "Sex On Fire" den Headlinerstatus, dem sie nicht eine Sekunde lang gewachsen waren. A propos Headliner: Die begannen mich insgesamt immer weniger zu interessieren. Ich fing an, mehr und mehr Zeit im damals noch Soundwave-Tent genannten Zelt zu verbringen und die kleineren Acts zu schauen. Blöd nur, dass die außer mir nur noch eine Randgruppe interessierten.

Die Übrigen machten es sich aber trotzdem vor den Bühnen gemütlich, weil es im Zelt so schön warm war und weil man sich auf Green und Blue Stage einen guten Platz für den Headliner sichern wollte. Wenn das Eventpublikum die Bands nicht verstand, wurde gepöbelt oder sich über die komplette Spielzeit lautstark unterhalten. Aber, wie erwähnt - wer fuhr schon noch wegen der Musik zum Hurricane? Die Ärzte und Fettes Brot sah man schließlich nicht, weil sie so gute Musik machten, sondern weil sie so tolle Partykapellen waren, bei denen man jede Zeile mitgrölen konnte. Hat alles seine Daseinsberechtigung und ist völlig okay so - das betone ich gerne in aller Form. Aber das viele Geld dafür zu bezahlen, dass ich in kleinen Abständen immer die gleichen großen Bands serviert bekam, die ich mir eh nicht ansah, und die kleinen auch für weniger Geld woanders bekommen konnte, sah ich nicht mehr ein.

Kurz und gut: Ich wollte nicht mehr mitmachen und wusste, dass mich auch keiner vermissen würde. Ich schien nicht mehr der Zielgruppe zu entsprechen und fand mich schnell damit ab. Ich entdeckte wundervolle kleine Festivals mehr und mehr für mich, die sich durch stilsicheres Booking im Kleinen und den Fokus auf bestimmte Sparten auszeichneten und bei denen die Abschweifungen in fernere Genres sich in angenehmen Grenzen hielten. Ja, wo Gäste wegen der Musik kamen und man sich als Musikliebhaber wohl fühlte. Aber ich sah auch eines meiner ehemals kleinen Lieblingsfestivals, Omas Teich in Großefehn, durch ein zu breites Spektrum, Größenwahn und Misswirtschaft sterben und ahnte, dass das Eventpublikum sich vom Festivalismus früher oder später verabschieden würde. Das ist jetzt zwei Jahre her.

Bauen wir eine Brücke zum Jahr 2015. Rock am Ring musste nach einem Streit mit den Betreibern des Nürburgrings die Location wechseln und der Platzhalter, Grüne Hölle Rock, lieferte sich mit der Lieberberg-Firma absurde Booking-Duelle mit Fantasiegagen. Im Zuge dessen wurden die größten und namhaftesten Headliner, die derzeit verfügbar sind, durch den krassen Konkurrenzkampf der Mogule abgegraben.

Nun ist ja dein Hausherr, FKP Scorpio, auch alles andere als eine kleine Klitsche, aber die wollten sich auf dieses finanzielle Schwanzmessen nicht einlassen. Das hat mir sehr imponiert. Nun lesen mittlerweile die meisten Leute, die dich, liebes Hurricane, besuchen, vermutlich nicht mehr die Visions, wo diese Information einem sehr interessanten Interview zu entnehmen war. Die Folge war ein sehr hässlicher Shitstorm über dein Lineup in den sozialen Medien, weil der Eventgänger von heute eben direkt pöbelt, wenn er nicht kriegt, was er will. Was er will, weiß er vermutlich gar nicht, aber er hat Recht, davon ist er überzeugt. Und weil es so einfach ist, in den sozialen Netzwerken zu pöbeln, und weil er nicht weiß, dass man Kritik auch konstruktiv üben kann und dass jede Medaille zwei Seiten hat, macht er den Lauten und disqualifiziert sich mit Anlauf selbst.

Dabei hattest du die Headliner-Frage eigentlich den Umständen entsprechend gut gelöst. Du hast das genommen, was du kriegen konntest. Mit Placebo eine Band der guten Schule, die nie den richtig großen Chartfame hatte, dafür aber Liebhaber aus verschiedenen Ecken des Alternative glücklich macht. Mit Marteria hattest du den derzeit präsentesten deutschen Rapper am Start, der bekannt ist für fulminante Liveshows, ob man ihn mag oder nicht. Und mit Florence & The Machine war da eine dieser Bands, die sowohl Gourmets als auch Radiohörer fesseln und somit die perfekte Mitte treffen. Muse, die Foo Fighters, die Hives und die Beatsteaks waren halt schon weg.

Trotzdem musstest du aushalten, dass rund 10.000 Leute weniger erschienen sind als in den letzten Jahren, weil höher-schneller-weiter nicht drin war in 2015, und dass du nicht ausverkauft warst, war auf dem Gelände auch zu jeder Zeit gut spürbar. Vor allem am Freitag vor der Red Stage, wo die einstmals so bei dir gefeierten Lagwagon am späten Abend nur noch vor einer Handvoll Unverdrossener spielten, die sich an gute alte Zeiten erinnerten. 2005 kamen Teeniepunks mit Lagwagon-Shirts an unserem Zelt vorbei und schnorrten Dosenbier. Von Teenies mit Iro und Parka war jetzt keine Spur mehr - die Punks sind in die Jahre gekommen oder weggeblieben. Die, die noch da waren, freuten sich auch über NOFX und Millencolin sehr.

Du hast etliche Acts auf deine vier Bühnen gestellt, die gerade in den Charts viel Erfolg haben. Das Aufgebot war sehr Hiphop-lastig, wobei sich Hiphopper sicherlich darüber streiten werden, ob Jan Delay überhaupt noch Hiphop ist, und all die anderen auch: Mit Marteria angefangen reichte das über Cro, Casper (wie im letzten Jahr, nur mit DJ-Set), SDP oder Irie Revoltés. Und als Secret Headliner hast du dann K.I.Z. präsentiert und dem Eventfan endgültig eine Steilvorlage zum Abgehen geliefert. Ich hatte zwar eigentlich mit Deichkind gerechnet, aber die waren ja auch schon bei Rock am Ring und haben da sicherlich mehr Geld bekommen, als man für dich ausgeben wollte, aber das hatten wir ja schon.

Ich will aber auch nicht pausenlos auf dem Lineup herumhacken. Ich hab mir im Vorfeld lange angesehen, was so geht. Und habe eine Entscheidung getroffen: Für dich, weil ich gerne mein zehnjähriges Festivalfamilienjubiläum würdigen wollte und beschlossen habe, mir aus dem gegebenen Plan drei Tage lang die Highlights zu picken. Ich hätte genauso gut mein Ticket verhökern und wegbleiben können oder - noch eher - gar nicht erst eins kaufen brauchen. Was bringt das ständige Gemotze, wenn man doch als Konsument die Wahl hat, ja oder nein zu sagen?

Und obwohl ich wegen all der eingangs aufgezählten Punkte wirklich skeptisch war, ob ich bei dir eine gute Zeit haben würde, hatte ich sie in jeder Sekunde. Habe ein Wochenende in bester Gesellschaft genossen und wunderbare Konzerte gesehen: Freitag von The Districts, meinen geliebten Counting Crows und den Backyard Babies, Samstag vor allem von Metz, East Cameron Folkcore, Future Islands und First Aid Kit und Sonntag von Skinny Lister, The Vaccines und Death Cab For Cutie. Wenn ich mir das so anschaue - alles keine Bands, denen man Eventtauglichkeit bescheinigen konnte. Bedeutet aber auch: Ich habe de facto als Musikliebhaber wegen der Musik zum Hurricane fahren können und eine wirklich gute Zeit verbracht. Wie früher.

Hinzu kommt: Beim Green Camping konnte man den reinen Partycampern vortrefflich aus dem Weg gehen. Einzig mehr Toiletten hätte es da gerne geben dürfen. Aber wer den großen Rabatz nicht will oder braucht, der muss ihn auch nicht haben, und dann kann unterm Strich jeder das tun, wozu er lustig ist, und so soll es ja sein. Ich bin der letzte, der den Leuten ihr Megafon nicht gönnt, so lange ich nicht mittendrin sitzen muss, wenn sie hindurch grölen.

Die Sache mit dem bargeldlosen Bezahlen können wir wahrscheinlich noch lang diskutieren. Du hättest das definitiv früher ankündigen müssen, damit die Leute noch eine Chance gehabt hätten, das Registrieren als Entscheidungsgrundlage für einen Ticketkauf mit einzubeziehen. Nicht jeder hat Lust, sich zu registrieren, und schon gar nicht, dazu auch noch gezwungen zu werden, weil es die einzige Möglichkeit ist, an Essen und Trinken und (immer noch überteuerten) Merch zu kommen. Als es Donnerstag so schwierig anlief, und die Leute erstmal gar keine Bändchen bekamen und später immer noch bis zu drei Stunden darauf warten mussten weil die IT lahm lag, durftest du dich mit dem nächsten Social-Media-Shitstorm herumärgern. Leider ist das bei aller Sinnlosigkeit nachvollziehbar. Drei Stunden für Bändchen anstehen nervt einfach. Und wenn man vorher schon Skepsis gegenüber des neuen Systems hatte, dann waren die Unzulänglichkeiten Wasser auf die Mühlen. Gut, dass dann am Ende doch noch alles reibungslos geklappt hat. Und zugegeben - da war es dann wirklich eine sinnige Alternative, denn die Abwicklung an den Ständen funktionierte schnell und reibungslos.

Ich habe übrigens an den Food Trucks enorm lecker gespeist und empfinde die Einbeziehung von frischer und exquisiter Küche als große Bereicherung. Die Besucher waren friedlich und hatten Spaß. Die Walking Acts, speziell die Dinosaurier, waren klasse. Die Securities, die Lotsen und die Leute an den Schleusen waren freundlich und hilfsbereit. Alles Faktoren, die so ein Wochenende toll machen. Kurz: Mir ging es gut und ich habe den Trip in vollen Zügen genossen.

Nächstes Jahr, denke ich, wird sich die Situation auf dem Markt auch wieder etwas beruhigt haben. Die Grüne Hölle hat sich ja auch mit den Nürburgring-Leuten überworfen, ist als Rock im Revier in die Arena auf Schalke umgezogen und der Verkauf lief schlecht. Ob es da eine Neuauflage gibt, warten wir mal ab. Dann wirst du wahrscheinlich auch wieder ausverkaufen und hoffentlich etwas mehr (auch internationale) Klasse im Lineup anbieten können. Wenn ich wiederkomme, werde ich hoffentlich nicht mehr so ohne weiteres an Ablaufplänen für mich basteln können, sondern durch ein Überangebot an sehenswerten Bands reizüberflutet sein.

All die Begleiterscheinungen eines zeitgenössischen Massenevents werden nicht zurückgedreht werden können, und wer damit nicht umgehen kann, der geht eben woanders hin. Nach diesem Wochenende, mit dem du mich dir wieder ein ganzes Stück näher gebracht hast, liebes Hurricane, weiß ich, dass du trotzdem eine gute Wahl bist, weil du mir in jeder Facette Alternativen zum großen Overkill geboten hast. Wahrscheinlich hätte ich das vorher auch schon haben können, wenn ich mich nicht selbst rausgenommen hätte. Ich möchte gerne 2016 wiederkommen. Das hätte ich vorher so nicht erwartet.

Bleibt insgesamt nur zu wünschen, dass die Mainstream-Maschine dich nicht vollends schluckt und irgendwann, wenn das Interesse weg ist, ausspuckt. Dass du dir in Teilen deinen Charakter erhältst, so dass du nicht unsanft fällst, wenn die Leute dir nochmal wegen dem Lineup die Treue versagen. Arbeite an deinen Fehlern und lerne daraus; bei so großen Veranstaltungen sind die Konsequenzen viel größer als bei kleineren Festivals. Das muss man dann aber als Gast auch entschuldigen können, vor allem, wenn sich alles so positiv auflöst wie es dieses Jahr der Fall war. "Das ist eben auch Rock'n'Roll", habe ich bei Facebook von einem User gelesen. Ist was dran.

Jedenfalls: Spaß ist, was ich draus gemacht habe.
Spaß ist, was offensichtlich die meisten draus gemacht haben.
Das spricht für dich, mich und alle anderen.

Viele Grüße, und danke für alles!

Dein


Kristof
von Nillson.de.





Text und Foto: Kristof Beuthner