Artikel 01.06.2020

Ist nicht alles so, wie's soll: Nillson beim Orange Blossom Special 2020, zuhause.

Was für ein Pfingsten ist das? Was für ein JAHR ist das? „Ist nicht alles so wie’s soll, es ist ordentlich verkorkst, aber was du sagst, ist ziemlich schön - es liegt nicht an dir. Wir können nichts, wir können nichts dafür“, sang Moritz Krämer einst, und das würde ich einfach mal so stehen lassen wollen.

Kein Festival wird dieses Jahr stattfinden, und nein, wir können nichts dafür. Niemand kann was dafür. Es ist die Schuld von dem, dessen Namen man nicht aussprechen darf, Voldemort-19 oder wie der heißt. Der hat das kaputt gemacht. Und wenngleich jedem vollkommen klar sein dürfte, dass einem Festival nachzuweinen angesichts der zum Teil desaströsen Weltlage ein reichlich egoistisch-hedonistisches Unterfangen ist, ist es uns allen auch gegeben, das eine kurzzeitig vom anderen zu trennen. Und dann darf man auch traurig sein, von Herzen traurig sein. Von den wirtschaftlichen Folgen, die eine solche Absage für die Macher eines Festivals hat und die in diesem Sommer ein Szenario an die Wand malen, das einen schlimmstenfalls zukunftsweisenden Kollaps vorweg nimmt, möchte ich mal gar nicht erst anfangen. Diese Schwere sollte inzwischen allen Beteiligten, Chefs wie Gästen, schmerzlich bewusst sein.

Das Orange Blossom Special in Beverungen aber ist halt nicht einfach nur ein Festival. Es ist, so pathetisch es jedes Mal wieder klingen mag, Familie. Wenn es nicht da ist, merkt man das umso mehr. An all den guten Leuten, die - als noch gar nichts offiziell abgesagt war - sofort laut wurden und bekundeten, auf eine Ticket-Rückerstattung zu verzichten, egal was kommt. Da sind die, die das Retter-Merch leer kaufen um so wie es irgend geht für Planungssicherheit für 2021 zu sorgen. Shirts, Masken, Beutel und Retter-Tickets gab es im Webshop von Glitterhouse Records Hand in Hand mit schönen Devotionalien der letzten Jahre zu erstehen, und gibt es immer noch. Die Leute, die alle fühlen wie ich gegenüber diesem heiligen Wochenende zu Pfingsten, lassen ihre Geldbörsen zu ihren Herzen werden und helfen. Und wer aus dem OBS-Orga-Team, Chef Rembert vorneweg, es bei all der Liebe und Fürsorge, die aus den unzähligen Kommentaren in Mails und sozialen Netzwerken spricht, tausende virtuelle Hände aufmunternd auf den Schultern, schafft, nicht ab und zu ein Tränchen zu verdrücken, muss Nerven aus Stahl haben.

Die Menschen, für die das Orange Blossom Special mehr ist als einfach nur ein Festival, trösten das Team, aber sie trösten auch sich gegenseitig. Es ist ja nicht nur die Musik, die immer da sein müsste, sondern es sind auch die Menschen, die fehlen; die Begegnungen; die Wärme; das Gefühl, da einen Ort zu haben, an dem man einfach mal ein Wochenende nur SEIN darf, weil man das gleiche daraus zieht. Für ALLE ist es die wunderschön-malerische Anfahrt, für ALLE sind es die Umarmungen von Menschen, die man vielleicht nur hier trifft, aber die Jahr für Jahr eine wunderbare Konstante sind, das erste Bier an der Weser, baust du den Grill auf, ich das Zelt? Ach, lass‘ erstmal hinsetzen, erzähl: Wie ist es dir ergangen in der Zeit zwischen zwei Wochenenden zu Pfingsten, die dieser Freundschaft eine Bühne sind und waren? Schweigen ist vorne, reden ist hinten, sich zu entscheiden fällt gar nicht immer leicht.

Ich vermisse die Menschen auch. Tierisch. Hier zuhause ist es leer. So viele Freunde in nun auch schon 11 Jahren OBS, die ich dieses Jahr nicht sehe. Yannick, immer beschäftigt. Drücker, nachher Bier? Auf JEDEN Fall! Klappt nie. Können wir zusammen drüber lachen Jahr für Jahr. Uwe, vorne links, in Hamburg wie in Beverungen, immer gute Laune, wenn ich den seh. Torsten, mit Riesenherz unterwegs hier. Christopher, Mattes, Lutz, Korbach, Olaf, der Doc, Simon, Rembert - wenn der Tag sich setzt und man hinten noch für ein Kaltgetränk oder acht zusammenfindet, mal eben kurz das Erlebte nachverhandelt und froh ist, sich zu kennen. Nico, Lena, Sven, Andi, Jessica, die sich letztes Jahr so großartig um Bühne und Tiny Wolves gekümmert haben. Ich vergess hier die Hälfte, mindestens. Ihr müsst euch alle angesprochen fühlen. Scheisse, das fehlt. Und jeder hat solche Geschichten zu erzählen und solche Menschen hier gefunden. Und jedem ist dieses Jahr etwas verloren gegangen, das mit Herz für uns gemacht wurde. „Zeig mir einen dem das egal ist und ich zeig euch einen Lügner“. Die mächtigen Kettcar sagen es wie es ist.

Völlig klar ist aber auch, dass ich dieses weltferne Pfingsten 2020 wenigstens irgendwie begehen muss wie gewohnt. Und weil das Orange Blossom Special für jeden Festivaltag einen Stream vorbereitet hat, und weil in meinem DVD-Regal einige Mitschnitte der letzten Jahre stehen und auch Youtube mir da einiges anbietet, feiere ich ein Festival zuhause. Duck the Virus. Ich lasse mir gar nicht vorschreiben, ob ich mir ein eigenes Orange Blossom Special bauen darf von diesem hochinfektiösen Aggressor. So habe ich wie jedes Jahr ein bißchen zu erzählen, und das geht so.

Das Festival daheim wird eröffnet von der Band Uijuijui. Deren Sänger soll sich gerne in der Hamburger Kneipe Mutter herumtreiben und wahnsinnig gute Witze erzählen. Gibt leider kein Bildmaterial davon und vielleicht wäre es auch nur witzig gewesen und ist nicht wirklich passiert. Es folgen Auftritte von Bigbang, sehr bluesig, rootsig, sehr cool; dann von der K1 Mitarbeiter-Band des OBS, zu der Rembert und Reinhard in überdimensionierten Fußbällen über die Bühne springen und „Hush“ mitperformen. Downpilot spielen wunderbar schwermütigen, gelassenen Americana, Mardi Gras BB cleveren, versierten Bluegrass. Sarah Hepburn, wunderbarer Auftritt. „We are not alone in this world“ singt sie, wie passend. Das erste Highlight sind die Norweger von Washington, die zuletzt Mount Washington hießen und unvergessen bleiben. Rune Simonsens Stimme geht immer noch bis ins Mark. Ich habe denen lange nicht zugehört, werde ich wieder öfter machen.

Es folgt eine ganze Armada an grandiosen Bands und Künstlern aus den USA und Kanada. Okkervil River, bevor sie groß wurden; dürfte schwer werden, die heute nochmal zum OBS zu bekommen. Stars-Sängerin Amy Millan, engelsgleich, wunderschön. Und natürlich die Broken Social Scene, damals gespickt mit dem Who is Who des Indie-Folk, auch wenn ihr größter Gast, Leslie Feist, hier heute nicht dabei ist. Und dann gibt es noch amtlichen Arschrock von Boozed. Dazu fällt mir die Story ein, wie wir damals beim Hurricane 2006 aus Versehen in die Backstage-Einfahrt gefahren sind. Der Typ so: „Ihr dürft hier nicht reinfahren“. Wir so: „Doch, wir sind Boozed!“. Er so: „Nee, seid ihr nicht“. Kannste dir nicht ausdenken. Aber der Höhepunkt des Nachmittags gehört Nils Koppruch. Es ist ganz still im Garten, und ich bin es auch.

Das Abendprogramm wird eröffnet von Co-Moderator und Fanzine-Kollege Simon Baranowski, der mit seiner Freundin im Auto auf dem Weg nach Beverungen Queens „Bohemian Rhapsody“ performt. Bilder, die man nie vergisst. Es ist seltsam, Rembert und Simon auf dieser leeren Bühne zu sehen, aber es gibt glänzende Performances aus dem letzten Jahr, von Suzan Köchers Suprafon zum Beispiel, die ich 2019 verpasst habe, weil ich gerade mit den Tinies auf dem Campingplatz war. Aber auch befreundete und OBS-nahe Bands sind Teil des Abends und haben besondere Sessions eingespielt: Die Giant Rooks zeigen uns eine großartige Splitscreen-Session mit Chor, Acht Eimer Hühnerherzen (best bandname of it all) laden uns aus dem Proberaum auf eine Quittenbrause in Leipzig ein, Husten um den glänzenden Gisbert zu Knyphausen singen vom Sofa aus, „stell dir mal vor, alles wäre anders“ - ja, mache ich, lebhaft. Und July Talk covern Mcluskys „To Hell With Good Intentions“, sehr mitreißend, die hätte ich dieses Jahr gern auf der Bühne gesehen.

Besonders stark sind aber die eigenen Beiträge, die Rembert und Simon da für uns zusammengeschraubt haben. Liebevoll und frühes Helge-Schneider-Niveau, das kann nicht schiefgehen. Auf dem dystopisch leeren Campingplatz wird gezeigt, dass ein Wurfzelt doch gar nicht so leicht aufzubauen ist; das erste Bier gibt es stilecht unterm Ernte-Sonnenschirm. Die beiden stellen dann ein historisch bedeutsames Ereignis nach, das sich dereinst im Teutoburger Wald zugetragen haben soll: Die Schlacht der Cherusker um den legendären Hermann gegen die römischen Eindringlinge um Generalfeldmarschall Quintilius Virus, passioniert dargestellt von Simon Baranowski und letztlich niedergestreckt von Hermann Stiewe, der, den Erfolg feiernd, hingebungsvoll „Als die Römer frech geworden, sim serim simsim sim sim“ zum Besten gibt. Der berühmte Arzt und Virologe Dr. Drahnier Lekän referiert mit hoher Fachkompetenz über das C*****-Virus mittels eines Apfels und Streichhölzern und zündet sich eine Kippe daran an. Fortuna Ehrenfeld sind Ehrengast auf der Bühne unterm Kronenleuchter und singen „Bella Ciao“. Ich dachte immer, der sieht anders aus, aber okay. Es gibt homemade Mini-Calzone, ohne geht’s nicht. Habe ich ganz gut hinbekommen.

Den Samstag eröffnet der großartige Dan Mangan, der sich zu „Robots“ unters Publikum mischt und alle singen mit und hören einfach nicht auf. So buchstabiert man Gänsehaut im Glitterhouse-Garten. Das gilt auch für Gisbert zu Knyphausen, hier mit Band, wie immer wundervoll. Er hätte auch für weniger Gage gespielt. Hat er Rembert nicht gesagt. Machste nix! Emily Jane White ist ein stilles Highlight, wunderschön. Und Slim Cessna’s Auto Club reißen die Bühne ab mit ihrem dreckig-energischen, düster-sakralen Doom-Gospel-Country. „Ich hab‘ mir gedacht, dass die hier einen Nerv treffen würden“, sagt Rembert. Haben sie. Wundervoll gerät der Auftritt von Madison Violet, herrlich harmonischer Country Folk mit Hingabe. Dann Golden Kanine, die OBS-Veteranen aus Schweden: Waidwund, hymnisch, majestätisch, grandios. Dieses Lineup hat es in sich.

Rocco Recycle auf der Mini-Bühne ist mal wieder die silberlackierte Wucht mit seinen aus Schrott selbstgebauten Instrumenten und purer Rock’n’Roll-Energie. Es gibt den ersten Auftritt von Wallis Bird beim Orange Blossom Special, unglaubliche Stimme, unfassbares Temperament. Tamikrest spielen hypnotischen Desert-Touareg-Rock, und beim Auftritt von Young Rebel Set muss eine Träne verdrückt werden; möge ihr Sänger Matty Chipcase in Frieden ruhen. Der Abschluss des Vormittags gehört den Schweden von Holmes: Elegisch, kathartisch, zurückgelehnt, schlicht wunderschön.

Den Auftakt zum Nachmittag bestreiten AnnenMayKantereit, die nach ihrem überwältigenden OBS-Debüt auf der Minibühne nun unterm Kronleuchter stehen, schon deutlich ge-, aber dem kleinen Rahmen noch nicht entwachsen; schön, das zu sehen. Was ist eigentlich aus Musée Mecanique geworden? Das war doch ein unfassbar feines Konzert damals! The Dead South machen großen Spaß, wie immer; Rocky Votolato weckt die Erinnerung an sein famoses Glitterhouse-Album „Hospital Handshakes“. East Cameron Folkcore passen fast gar nicht komplett auf die kleine Bühne, ein sehr intensiver Auftritt. Die große Geste mit purer Schönheit gibt es bei Madrugada-Sänger Sivert Hoyem; Kill it Kid kamen später nochmal als Ida Mae zurück - und Gisbert zu Knyphausen spielt mit der Kid Kopphausen Band einfach nochmal für mich an diesem Samstag. Unvergessen, wie er auf einmal da war - und neben und vor der Bühne alle weinen mussten, weil Nils Koppruch gerade gestorben war und alles noch voll war mit Trauer und Fassungslosigkeit, und an diesem Tag war er ein bißchen dabei.

Am Abend gibt es zuerst eine wahnsinnig starke Performance von Tom Allan & The Strangest, den Gewinnern des letztjährigen OBS, wenn man so will; natürlich im Splitscreen-Modus, es heißt auch hier: Abstand halten! Black Sea Dahu sind aber auch eine der Entdeckungen von 2019 gewesen, mächtig und wunderschön. Money For Rope spielen das erste Auto-Konzert im Glitterhouse-Garten. Soll das die Zukunft sein? Simon und Rembert fachsimpeln ein wenig, sind sich aber einig, dass „AutOBS“ kein guter Name ist. Dann Lysistrata: Unfassbar hartes Brett. Die Franzosen spielen sich in einen Rausch. Und Adam Angst erinnern daran, dass es wichtiger denn je ist, sich gegen Nazis und Schwurbler zu positionieren. Keinen Millimeter nach rechts!

Eine wunderbare kleine Home-Session gibt es auch von Mudlow, die ihre Grüße singen und ihre Bestätigung für die 2021-er Ausgabe des Orange Blossom Special verkünden. Gleiches gilt auch für Jenobi, die eine wirklich wunderschöne Version von „Jonas“ aus dem Wohnzimmer senden. Das wird richtig schön nächstes Jahr. Ansonsten zeigen Simon und Rembert, dass man beim OBS auch durchaus Sport machen kann. Flunkyball spielen zum Beispiel. Simon scheitert aber schon beim Treffen der Flasche, Remberts Sieg ist zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Da kann man sich zum Abschluss im Stadtkrug auch mal einen leckeren Whisky gönnen. Typisch OBS halt. Dr. Drahnier Lekän stiehlt aber schon wieder allen die Show und stellt heute verschiedene Mund-Nasenschutz-Modelle vor, die ja zum Teil wirklich sehr leicht selbst herzustellen sind. Besonders nachahmenswert: Das mit Gummibändern betackerte Stoffläppschen, der Tanga unter den Masken. Herrlich. Mein nachgebautes OBS-Food für heute ist übrigens der Saté Burger von Camp Cuisine.

Sonntag bin ich natürlich gespannt, wer um 11:30 als Secret Act auf der Bühne spielt, und ich schaffe es sogar, mich so erfolgreich selbst an der Nase herumzuführen, dass ich über Get Well Soon gleichermaßen hocherfreut wie überrascht bin. Für „It’s Love“ holt sich Konstantin Gropper den Berliner Kneipenchor auf die Bühne. So geht großes Tennis! Danach spielen Xixa ein wahnsinnig gutes Konzert mit ihrem latin-driven Desert Rock und Chantal Acda betört mit ihrer wundervoll schwebenden Stimme. Torpus & The Art Directors haben fast schon Heimspiel, schön, Sönke und Ove dieses Wochenende auch noch eben zu sehen. Das OBS ist für Sönke Torpus eine alte Liebe, auf das er jedes Jahr gerne fährt, auch wenn seine Mama bis heute nicht genau weiß, was er da eigentlich macht. Die Nerven spielen gewohnt treibend, brachial und intensiv, Pleasant Grove danach majestätisch, laut und episch. My Baby sind live immer wieder ein unnachahmliches Highlight. Und dann gibt es zum Vormittags-Abschluss auch noch das riesenhafte OBS-Debüt von The Slow Show zu sehen - wie heftig gut war das denn bitte? Ich bin immer noch fassungslos.

Am Nachmittag covern die famosen Odd Couple mit „All Day And All Of The Night“ The Kinks; Louis Berry ist immer noch eine sehr vielversprechende Entdeckung (kann der bitte mal endlich sein Album fertig machen? Ich warte da jetzt echt schon lange drauf. MANN!) und Moddi, der weltweit Protest-Songs sammelte und sie in eigene, herzerwärmende Folk-Songs verwandelte, rührt abermals sehr. Teksti-TV 666 sind mal wieder ein nur schwer in Worte zu fassender Abriss, Gurr spielen eine sehr energetische RiotGrrrl-Punkshow und Faber füllt inzwischen auch schon weit größere Bühnen, der OBS-Auftritt unterm Kronleuchter erklärt eindrucksvoll, warum das so ist. Ach ja, und dann beschließen meine Lieblings-Schweden von Immanu El das zweite Drittel des Festival-Sonntags. Ich kann denen immer wieder zuschauen, das ist sehr faszinierend und magisch, was die da machen, majestätisch mäandernd zwischen Postrock und Pop.

Wie gut und beruhigend, dass es so fähige Mediziner wie den auch heute wieder mit purer Brillanz und Weisheit bestechenden Dr. Drahnier Lekän gibt. Der nimmt den Rauchern die Angst vor einer Infektion: Weil sich das Virus an Becherzellen und Flimmerhärchen festsetzt, diese bei Rauchern aber alle eh schon plattgemacht sind, findet es nämlich nichts zum Andocken und rutscht einfach durch den Körper durch. Das ist wirklich eine wichtige Information! Rembert und Simon absolvieren dann einen Schnupperkurs im Reiten und sind begeistert, wie gut Pferde riechen. Das Mini-Calzone-Wettessen gewinnt Simon nach einer starken Aufholjagd gegen Rembert - Respekt! Und mit der Vorstellung vom erst 2jährigen Greenkeeper des OBS, Remberts Enkel Tristan gibt es einen schönen Einblick in das Innenleben unseres Lieblingsfestivals. Spannend gerät auch die kleine Podiumsdiskussion mit der Feministin und Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli, die der Frauenquote beim Orange Blossom Special auf den Zahn fühlt.

Tolle Momente aus dem letzten Jahr gibt es auch wieder zuhauf nachzuerleben. Von Jörkk Mechenbiers Love A zum Beispiel. Oder von meinen Tiny Wolves - oh, sweet memories! Cash Savage And The Last Drinks sind immer noch hammerhart und bärenstark, sie werden nächstes Jahr wiederkommen, welche Freude! Und die Erinnerungen an das letztjährige Abschlusskonzert von Garda & Ensemble Tanderas wirken immer noch nach. Von zuhause schicken die libanesischen Postcards feinste musikalische Grüße, die sind auch so eines der Highlights vom Orange Blossom Special 2020 und werden das nächstes Jahr unter Beweis stellen. Und die echten Fortuna Ehrenfeld dürfen dann doch noch ran, mit einer Geistershow aus dem Kölner Gloria. Den Tag bringt Alex Henry Foster nach Hause, und wie. Was der Kanadier da mit seiner vielköpfigen Band veranstaltet, ist unvergleichlich intensiv, unbeschreiblich und ausufernd. Zwischen Dark Folk, epischem Postrock tiefster Katharsis schnürt einem die pure Emotionalität die Kehle zu. Dann ist es vorbei.

Und jetzt werden wir nochmal kurz ernst. Das war im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten ein schönes Wochenende, denn ich denke, alle haben auf ihre Weise das beste draus gemacht. Überall im Land saßen Freunde des Orange Blossom Special vor ihren Fernsehern und haben ein Festival zuhause gefeiert, sicherlich mal so konsequent wie ich, womöglich auch nur konzentriert auf den abendlichen Livestream, für den ich Rembert, Simon und allen Beteiligten hier nochmal in aller Form danken möchte. Man hat gespürt, wie nahe es den beiden bei aller Blödelei gegangen ist, dieses Format zu produzieren, und ja, auch sie haben das beste draus gemacht, haben die Stimmung eingefangen, den Geist dieses einzigartigen Festivals konzentriert und für ein feines, kleines Methadon auf den Punkt gebracht. Mit Sicherheit haben beide sich gefreut, sich wenigstens mit dem gebotenen Mindestabstand sehen und etwas Zeit verbracht haben zu können. Dafür, wirklich: Danke. Danke im Namen aller, denen dieses Wochenende genau so weggebrochen ist.

Ja: Dass wir alle uns dieses Jahr nicht physisch, sondern nur im Geiste vereint in Beverungen treffen konnten, ist ein Luxusproblem. Darum hat auch Rembert Stiewe selbst nie einen Hehl gemacht. Anderen auf der Welt geht es weit schlechter. Den Menschen, die in Flüchtlingslagern festsitzen und ohne konkrete Hoffnung auf Besserung nur auf den Virus warten. All denen, die schwer krank geworden sind oder einen geliebten Menschen verloren haben. Denen, deren berufliche Existenz gefährdet ist oder schon zerstört wurde durch die Folgen des Virus. Ihnen allen gelten in diesen Tagen auch meine Gedanken. Solidarität ist nicht nur dieser Tage, aber eben jetzt ganz besonders die deutlich bessere Entscheidung als Egoismus. Leave no one behind ist die Devise, und an jeden richtet sich der Wunsch, sich einzubringen, auf welche Weise auch immer.

Nichtsdestotrotz ist das Orange Blossom Special für uns alle ein Ort, an dem wir die Unbill der Welt mal ein Wochenende lang ausblenden können. Die Probleme sind durch Pfingsten in Beverungen nicht geschmälert, sie sind da und gegen sie gilt es, anzugehen. Aber wir sind darin vereint und uns bei diesem Festival in der gemeinsamen Sache sicherer denn je. So war es, so ist es, und so wird es auch wieder sein, wenn alles gut läuft und das „Duck the System“-OBS im kommenden Jahr nachgeholt wird. Ich sagte es eingangs: Man muss die Dinge auch voneinander trennen können. Die Traurigkeit über den Ausfall dieses Jahr in Relation setzen zur Weltlage. Aber trotzdem muss man dann auch traurig sein dürfen, dass wir uns nicht wiedersehen konnten, so wie man traurig ist, seine Freunde im täglichen Leben gerade nicht mehr regelmäßig zu sehen, die Eltern gerade nicht umarmen zu dürfen und darüber, wie sehr man seinen Alltag gegen die eigenen (und damit nämlich nicht grundsätzlich unlauteren, gelegentlicher Hedonismus hin oder her) Bedürfnisse zu organisieren hat.

Dafür war dieses Wochenende, dieses Orange Blossom Special zuhause, dann doch wieder eine sehr willkommene Gelegenheit zum gepflegten Eskapismus. Und das ist auch gut so, denn wir alle mussten mal durchatmen. Wir werden wieder angreifen, uns engagieren, uns einbringen. Aber diese drei Tage, die wir auf die ein oder andere Weise für uns gestaltet haben, waren nötig für unsere "psychische Gesundheit", die ja auch nicht von unbeträchtlicher Bedeutsamkeit ist.

Das Orange Blossom Special verkörpert für uns das Teilen von Liebe, Zugewandtheit und Haltung, das Vergewissern vom richtigen Weg, auf dem man sich befindet; ob es wirklich stattfindet oder nur virtuell auf unseren Bildschirmen. Denn die guten Gedanken an liebe Menschen, an fantastische Musik, aber eben auch an die Schwachen und Benachteiligten, die sind da und die bleiben. „Zeig mir einen, dem das egal ist, und ich zeig euch einen Lügner“.

Darum hoffe ich, zusammen mit euch, dass wir uns nächstes Jahr wiedersehen. Dass wir uns umarmen und sagen: Schön, dass es euch noch gibt. Dass ihr es durch diese Krise geschafft habt, dass ihr gesund geblieben oder wieder gesund geworden seid, dass sich zwischen uns nichts verändert hat. Dass drei Tage im Glitterhouse-Garten die Welt wenigstens einen Augenblick lang zu einem guten Platz machen.



Text: Kristof Beuthner