Rezensionen 12.09.2018

Iskandar Widjaja - Mercy [Neue Meister / Edel]

Wenn Post vom Berliner Neoklassik-Label Neue Meister im Briefkasten liegt, schlägt das Herz höher. Mehr noch als Epigonen von Erased Tapes bringt das Label Contemporary Sounds mit Klassik-Traditionalismus in Einklang - im Fall von Iskandar Widjajas „Mercy“ verhält sich das kein bisschen anders.

Der Sohn arabisch-holländischer und indonesisch-chinesischer Eltern wuchs früh in sein Metier hinein, spielte bereits Konzerte mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dem Konzerthausorchester Berlin, den Philharmonikern aus München, Warschau und Shanghai sowie dem Sydney Symphony Orchester und hat Schumanns Violinsonaten, Bach-Stücke und ein Tango-Album veröffentlicht - so weit, so traditionell, könnte man sagen. Dass Iskandar Widjaja sich aber der Moderne durchaus verpflichtet sieht (unter anderem arrangierte er seine Sounds auch für die Paris Fashion Week und die Mailänder Expo), wird klar, wenn er sein „Baby“, wie er „Mercy“ zärtlich nennt, mit einer auf Klavier und Violine reduzierten Fassung von „The River Flows In You“ eröffnet - ja, das ist das Stück, das Edward Cullen in „Twilight“ seiner Bella widmet, und natürlich ist da der Kitschverdacht hoch, aber ein schönes Stück ist es und bleibt es. „Mercy“ ist insofern Widjajas persönlichstes Werk, da er darauf seinen größten Inspirationsquellen in eigenen minimalistischen Arrangements zwischen Ambient und Neoklassik huldigt. Das Werk Johann Sebastian Bachs findet hier schon durch Widjajas musikalische Vita Daseinsberechtigung; gemeinsam mit der mongolischen Sängerin Urna Chahar-Tugchi ist für „Mercy“ eine durch die unterschiedlichen Approaches an klassische Musik ziemlich spannende Neuinterpretation von Bachs „Erbarme dich mein Gott“ entstanden, die hier „Eneril“ heißt, wohingegen das dreiteilige „Violin Concerto in D Minor“ einem wunderbaren Traditionalismus frönt. Noch näher liegt der Griff zu Arvo Pärt, dessen wohl bekanntestes Werk „Spiegel im Spiegel“ in Kollaboration mit dem italienischen Violinisten und Sounddesigner Giordano Franchetti noch näher an die Klangwelt von Olafur Arnalds heran rückt; der Titeltrack ist offensichtlich einem weiteren großen Vorbild Widjajas, dem großen Max Richter, nachempfunden.

Die Faszination der Tatsache, dass diese Musik in der heutigen Zeit funktioniert, macht deutlich, welche wunderbare Vorarbeit Künstler wie Arnalds, Richter oder Nils Frahm geleistet haben: Neben den Ambient-nahen Stücken auf „Mercy“ fällt der traditionalistische Ansatz vor allem in den Bach-Interpretationen Widjajas gar nicht mehr aus dem Rahmen; die Ohren auch klassikunerfahrener Hörer haben sich gewöhnt und der Geist ist willig, sich einzulassen. Weil die Symbiose aus zeitgenössischen Soundscapes und klassischem Violinenspiel so wunderbar funktioniert, ist Iskandar Widjajas „Baby“ mit all der Sehnsucht und Wärme, die es ausstrahlt, nicht nur ein wundervolles Album an sich, sondern auch wiederum Inspiration, es mal mit dem Oeuvre von Bach oder Pärt abseits der Neuinterpretationen zu versuchen. So kann Iskandar Widjaja seinerseits zu der Inspiration für uns Musikhörer heute werden, wie es seine großen Vorbilder vor vielen Jahren für ihn wurden.


Text: Kristof Beuthner