Artikel 16.08.2012

Euphorie und Isomatte - Nillson beim Dockville 2012

Während die einen in die Ferien fahren, auf europäischen Autobahnen im Stau stehen oder sich an palmenbewucherten Stränden in der Sonne räkeln, ist der Sommer nicht nur eine Zeit zum Wegfahren, sondern auch zum Hierbleiben. Das zumindest gilt für alle Musikliebhaber, denn die deutsche Festivallandschaft ist durchwachsen. Rock, Pop oder elektronische Musik gibt es bei MELT, Rock am Ring, Fusion, Southside, Haldern Pop und vielen mehr. Auf dem in Hamburg beheimateten MS Dockville, hat sich die Autorin dieses Textes selbst ein Bild gemacht.

Auf dem Campingplatz angekommen, wird –alle Jahre wieder – das Zelt von Mama und Papa ausgepackt und auf Vollständigkeit überprüft. Ein kritischer Blick in den Himmel folgt mit der Bitte, dass es dieses Wochenende nicht regnen möge. Aber die dunkelgrauen Wolken treiben so manchen zur Vernunft: Also doch Gummistiefel!  Die Zeltnachbarn erwärmen derweil Dosenravioli auf dem Camping-kocher, die Mahlzeit wird später mit einem Schluck Bier heruntergespült. 
Vor dem Eingang zum Festivalgelände stauen sich die Menschenmengen. Das Dockville hat aber nicht nur Programm für die Ohren zu bieten: Zum Kunstcamp des Festivals haben KünstlerInnen zum Motto "Entweder. Oder" gearbeitet und schmücken mit ihren Audioinstallationen, Plastiken und Performances das Gelände. Poetry Slams und Führungen über das Gelände komplettieren das alternative Programm. Eine Reizüberflutung ist wie vorprogrammiert, bei dem ehrgeizigen und vielfältigen Angebot, das sich das Organisationsteam vom Dockville vorgenommen hat.
In einer Nische unweit des Eingangs stehen riesig errichtete Buchstaben auf abgewetztem Rasen: "Krieg", "Frieden". Hier arbeiten Künstler zu dem Roman Tolstois und beschriften mit Filzstift die Festivalgänger mit je einem Teil des Romans und einer Seitenangabe. „Gebt uns ein wenig eurer Körperfläche und werdet Teil der Weltliteratur“, so versucht einer der Künstler die Vorbeieilenden zu umwerben: Die einen jauchzen, die anderen ziehen in Eile weiter. Neben der ersten großen Bühne unweit des Eingangs thront ein überdimensionaler hölzerner Schwan im Schatten. Ein paar Mädchen haben die Konstruktion bereits vereinnahmt, blättern im kleinen Programmheft, umkringeln Namen der Musiker und überlegen, was sie heute Abend sehen werden: "Maximo Park?", "Auf jeden Fall!", "Danach Hot Chip!". "Das schaffen wir nicht." Das dichte Programm fordert hier jeden Musikliebhaber heraus, denn die sechs Bühnen werden von Mittags bis Spätnachts parallel bespielt. Der erste Tag bleibt chaotisch: Überall gibt es was zu sehen oder zu hören. Deshalb landet man schnell abseits der großen Bühnen: Im Butterland geht es entspannt zu, Frauen mit karnevaleskem Federschmuck im Haar bewegen sich grazil zu den tiefen Bässen elektronischer Musik, DJs wechseln sich ab an den Mischpulten, daneben liegen andere matt in Hängematten, die ringsum zwischen den Bäumen gespannt sind. Bei der Elektro-Punk-Band Frittenbude geht es wenig später derber zu: Ein bisschen vorhersagbare Reime, aber eingängige Beats. Kennt man. Mit Imperativen wird das Publikum animiert ("Jetzt Hände rauf!") und freut sich daran, während oben auf der Bühne im Hintergrund ein Stoffpandabär zur Musik tanzt. 

Der nächste Tag beginnt und im Zelt ist es stickig. Wir huschen zu Soléy, die auf der großen Bühne die Mittagshitze zu überbrücken versucht. Zwischen den zarten Songs kokettiert die Musikerin mit holprigem Englisch und vergisst auch mal den Refrain ihrer Lieder: Egal! Aber als Soléy das Publikum bittet mitzusingen, im Zweifelsfalle um die Fans als Text-Stütze zu benutzen, bleiben die Münder der Fans mehrheitlich geschlossen. Am Ende gibt es für die Bemühungen dennoch freundlichen Beifall von allen Seiten. Von der sympathischen Isländerin geht es ein wenig später zu der in Köln aufgewachsenen Dillon. In schwarz gehüllt und mit verzogenem Gesicht scheint sie die sonnige Bühne nicht sehr zu genießen. In der Begleitung von Tamer Fahri Özgönenc, einem Mitglied der Band MIT liefert sie ein facettenreiches Repertoire: Zuerst sind die bedrohlich wummernden Bässe an der Reihe, später folgt eher kindliches Geklimper auf dem Keyboard, um dann wieder von den elektronischen Beats eingeholt zu werden. Nach einer Weile scheint endlich auch die Laune der Sängerin merklich gehoben. Kontrastiert werden die weiblichen Acts vom deutschen Rapper Prinz Pi, der mit gängigen Hip-Hop-Klängen von seiner vergeblichen Liebesmüh textet: "Du bist, alles für mich, alles das, was mir Angst macht. Meine silberne Kugel, mein Kryptonit und mein Anthrax". Um diese "Liebe" ging es auch irgendwie dem Publikumsmagneten James Blake, der hingegen mit elektronischen Sounds betört: Das Feist-Cover "Limit to your love" lässt die Liebespaare im Publikum näher zusammenrücken. Scheu stellt sich der britische Sänger vor, so als sei er hier ein Unbekannter: "Hello. My name ist James Blake." Natürlich kommt sofort kreischendes Echo aus den Publikumsreihen zurück: "JAAAAAMES!". Später in der Nacht freuen sich die Unersättlichen über die Techno-House Klänge des DJs Axel Boman. Neben der Bühne, auf der sich Boman schweißgetrieben am Mischpult abarbeitet kann man die im matten Kunstlicht schimmernde Plastik des Streetart-Künstlers Tasek bewundern: Aus hunderten Plastikflaschen hat er einen "Malstrom" zwischen die Baumkronen gebastelt. Bis in die frühen Morgenstunden herrscht bei Boman buntes Treiben: Als es hell wird verteilen einige glückliche "Raver" rohes Gemüse an die hungrige Meute. Auf dem Rückweg zurück zum Zeltplatz kommen wir an einem längst erloschenen Lagerfeuer vorbei an dem ein junger Mann mit Matrosenmütze und bemaltem Gesicht schläft. Am Zelt angekommen leuchtet die Sonne am Horizont und wir fallen glücklich in die Betten, beziehungsweise auf die Isomatten. 

Am Mittag warten wieder geduldige Menschenmengen mit staubigen Gesichtern vor den Duschen. Der Himmel ist blau, keine Wolke zu sehen. Am Ende einer Schlange zu den Duschen vertreiben sich zwei Mädchen die Wartezeit, in dem sie textsicher zu den Melodien Prinz Pis rappen, die da aus den Boxen des Ghettoblasters strömen. Halbwegs frisch geduscht genießt man wenig später die knallige Bühnenshow der kanadischen Band Misteur Valaire: Ein Kostümwechsel folgt dem nächsten. Und diese Wechsel geben das Tempo vor, das vor allem eins ist: Schnell! Ruhiger geht es wiederum bei der Band  Me Succeeds zu, die hier ein Heimspiel feiert. Und obwohl sich das Hamburger Trio heftig mit der Technik müht (mehrfache Stromausfälle und verstimmte Instrumente), versuchen die Fans die missmutigen Musiker mit Applaus und Pfiffen zu ermutigen. Im Butterland spielt die School of Zuversicht elektronische Musik und verteilt Aspirin an die tanzende Menge. Neben mir wird energisch verhandelt, ob man sich am Abend nun Tocotronic ansehen solle oder nicht. Jetzt packen die Ersten ihre Taschen und auch mein Zelt schrumpft wieder auf handliche Maße. Bepackt sitze ich mit anderen Dockville-Besuchern am Hamburger Hauptbahnhof und warte auf den Zug. Erschöpfung und Sonnenbrand liegt auf den Gesichtern der Anderen: Man ist zuversichtlich, freut sich aufs nächste Jahr, auf das weiche Bett zuhause und auf "alles andere außer Dosenravioli".

Text: Tabea Venrath
Fotos: "Samson"