Artikel 21.03.2016

Es tut mir leid, AnnenMayKantereit.

Heldenstilisierung und Demontage funktionieren im Pop so: Die Medien erheben eine Band zum Wunder und zur großen Hoffnung, so lange sie noch klein ist. Wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht hat, ist sie eigentlich scheisse. Aber von vorne.

Am 18.3. ist das Debüt von AnnenMayKantereit erschienen. Muss ich erklären, wer das ist? Christopher Annen, Henning May, Severin Kantereit, Malte Huck. Mehr zu sagen, ohne Phrasen zu dreschen und die immer gleichen Stories zu erzählen, wird jetzt schon schwer. Hashtag Köln, Hashtag Straßenmusik, Hashtag Jungs von nebenan in Schlabberklamotten, Hashtag Studentenromantik, Hashtag unfassbare Stimme. Hashtag bekannt geworden über Youtube-Videos, Hashtag durch gutes und kluges Selbstmarketing von der Straße in die großen Hallen und auf die späten Festivalslots bei immer größeren Festivals. Hashtag sky is the limit.

Pardon: Sky was the limit. Denn wenn man sich im Netz so umschaut, scheint das Debüt „Alles nix konkretes“ das Limit zu sein. Der Scheide- und Reizpunkt. Warum eigentlich? Probieren wir mal, das zu erklären und holen ein wenig aus.

Als ich die Band vor zwei Jahren beim Orange Blossom Special in Beverungen zum ersten Mal sah, war nicht nur ich von den Socken. Die Jungs spielten zwei Umbaupausen auf der Minibühne und begeisterten die Leute derart, dass es so voll wurde, dass die Band die nahen Bierbuden nicht mehr sehen konnte. Verkaufte aus dem Stand 250 Tonträger ihres selbsthergestellten „eigentlichen“ Debüts. Ein paar Monate später, Appletree Garden, Diepholz, Samstag, 15:30: Die erste Sonne eines Wochenendes im Matsch, glückliche und gerührte Gesichter im Publikum, während der Zugabe verlagerte sich das Publikum mehr und mehr Richtung Merch, um sicher noch eine CD abgreifen zu können. Herbst 2014: Die EP „Wird schon irgendwie gehen“ wird als Crowdfunding-Projekt angekündigt, hat schon nach drei Tagen 100% erreicht.

AnnenMayKantereit werden zur Konsensband für diejenigen, die den Overkill im www nicht mehr ertragen können. Die sich ehrliche Bodenständigkeit zurück wünschen zwischen den Styleseiten im Musikexpress und den Hipster-Aufmärschen zu Künstlern mit Synthesizer und Drumcomputer. Die endlich wieder Songs hören möchten, statt dem nächsten Hype zu folgen. Die auf junge und unverbrauchte Gesichter stehen, die jung und unverbraucht sind, weil sie jung und unverbraucht sind und nicht, weil jemand ihnen erzählt hat, dass da eine junge neue Band ist, die jung und unverbraucht ist.

Textlich gelingt den Jungs der überaus seltene Spagat, mit äußerst einfachen Worten auf den Punkt prägnant das Innenleben von Studenten(generationsangehörigen) zu treffen. Die erste Wohnung, Abschiede am Bahnhof, die diffuse Sorge vor dem Älterwerden. Genialer- und praktischerweise trifft das auch das Innenleben von Kids, die erst noch Studenten(generationsangehörige) werden wollen, und Erwachsenen, die es mal waren. Clubs wie das Chez Heinz in Hannover oder das Konzertschiff Treue in Bremen reichen für eine so große Zielgruppe nicht mehr aus. Ist ein Auftritt ausverkauft (und das sind bald alle), werden Zusatzkonzerte angesetzt. Eigentlich ist das überhaupt nicht zu fassen. Sky is the limit, oh ja.

Klar, dass der Markt nicht schläft und früh aufmerksam wird. Plattenmenschen stehen Schlange. Jeder will AnnenMayKantereit haben. Die Trümpfe liegen aber bei der Band. Ein super Manager organisiert mit großer Cleverness die Geschicke der Band, Fotograf und Tonmann sind ebenfalls Freunde. Konzerte verkaufen AnnenMayKantereit eh aus. Sie können sich Zeit lassen. Der Gang zum Majorlabel ist trotzdem zwangsläufig; zum ersten Mal ist Bescheidenheit nicht mehr nötig, sondern der nächste Schritt logisch. Vertigo bekommt den Zuschlag. Neue Songs werden geschrieben. Das Album heißt „Alles nix konkretes“ und kommt im März. Beim Hurricane Festival im Juni steht die Band auf dem Plakat schon in einer Reihe mit Bloc Party, über Granden wie den Hives, den Editors, den Subways oder Maximo Park.

Die Musikpresse, auch die große, ist schon lange aufmerksam geworden. Eigentlich wollte sie die Band ja unnütz finden, inzwischen merkt sie, dass das so einfach nicht mehr ist. Die Leute werden darüber lesen wollen. Der Musikexpress kanzelte Henning May noch in seiner Gastrolle auf dem letzten KIZ-Album ab und schrieb, das Geheimnis seiner Teenie-Wirksamkeit läge im stimmlichen Mix aus Casper und Clueso. Inzwischen liest man übrigens auch über Grönemeyer, Westernhagen und Klaus Lage. Anders ausgedrückt: Deutschrock-Mief. Beim Online-Artikel zum Appletree Garden 2015 heißt es, den Texten der Band wohne auf gut gemeinte Weise Trivialität inne, was sie einer ganzen Generation junger Menschen zugänglich macht. In der Januar-Ausgabe, nur wenige Monate später, prangen AnnenMayKantereit auf dem Cover des Magazins. Tagline: Die heißesten Bands für 2016.

Als das Album am Freitag erscheint, quillt das Netz über von Kritiken. Jetzt hören endgültig nicht mehr nur die Fanzines und Blogs zu. Bei so viel Vorschuss müssen auch die Großen mitspielen, und auch unter denen nicht mehr nur die mit ausgewiesener Musikaffinität. Und der Wind bläst plötzlich wesentlich härter. Aus der bodenständigen Ehrlichkeit, der Jugend und Unverbrauchtheit wird plötzlich Desinteresse am gesellschaftlichen Leben und Eindimensionalität. „Haben die jungen Leute das verdient?“, titelt Zeit Online, und bezeichnet die Band als schnurzpiepe Langweiler. Schlechte Texte, schlechte Reime. Der Bayerische Rundfunk findet freundlichere Worte, räumt aber ein, dass der „Uffta-Offbeat-Straßenmusikantenfolk“ der Band einem durchaus Gänsehaut der negativen Sorte bereiten könnte.

Want more? Auf Spiegel Online steht, AnnenMayKantereit seien die Revolverheld-Version von Isolation Berlin. Und Henning May muss sich plötzlich vor der Frankfurter Allgemeinen verantworten, warum die Band eigentlich so unpolitisch sei. „Statt Diskurs ist Duselei gewünscht“ - nochmal Spiegel Online. Und während sich beim Online-Kaufhaus mit dem kleinen a die Lobhudeleien zur EP noch überschlugen, steht „Alles nix konkretes“ derzeit bei bescheidenen Dreieinhalb Sternen. Aus „Endlich!“ und „Juhu!“ ist „Langweilig“ und „Naja“ geworden.

Okay: An der Band vorbei hören kann jetzt wirklich niemand mehr. Das zieht zwangsläufig auch die Leute an, die den Sound, die Texte, das Gesamtpaket nicht mögen wollen. Oder können. Was unumwunden jedem selbst überlassen bleibt. AnnenMayKantereit sind spätestens jetzt im Mainstream angekommen. Sicherlich nicht in der Herangehensweise. Wohl aber in der Wirkung und im Öffentlichkeitsappeal.

Und die Leute, die früh dabei waren oder wie ich vor zwei Jahren, also in der Entstehung des Hypes, hinzugekommen sind? Die müssen sich nun endgültig vergegenwärtigen, dass die Band nicht mehr ihnen gehört. Das schmeckt längst nicht jedem. Da ist es wesentlich leichter, zu erzählen, dass man sich satt gehört hat und die Augen wieder auf mehr Tiefsinn legen möchte. So Studenten(generationsangehörigen)lyrik überholt sich eben auch. Ey, kennt ihr eigentlich Isolation Berlin? Wahnsinn!!! Und dennoch ist es fadenscheinig, sich ausgerechnet jetzt damit aus dem Fenster zu lehnen. In kleinen Clubs mit 250 Leuten kann man die Band schon lange nicht mehr sehen.

Doch was ist denn nun eigentlich wirklich anders geworden durch „Alles nix konkretes“? Streng genommen ist das Album ein Best Of der letzten Jahre. „Oft gefragt“, „21, 22, 23“ oder „Barfuß am Klavier“ kennt man seit Ewigkeiten; es sind nur vier Songs drauf, die vielleicht noch nicht jeder auswendig kennt, der schon mal auf einem oder zwei oder drei Konzerten war, und auf so vielen Konzerten war jeder schon allein deshalb mal, weil die Band wirklich äußerst bühnenaffin ist und man eigentlich in den letzten zwei Sommern kein Festival besucht haben kann, und nicht irgendwo auf AnnenMayKantereit getroffen ist. Mein Kumpel hat gesagt, die sind super, da stell ich mich mal mit vor die Bühne. Und Wahnsinn, diese Stimme!

Die Songs sind also weitgehend bekannt, aber das ist einer der wenigen Kritikpunkte, die man berechtigt äußern darf. Aber der erste Major-Release ist bei dieser Band ohnehin vor allem dazu da, auch die letzten Unwissenden einzupacken. Alle anderen besitzen ohnehin schon die EP, vielleicht sogar das Debütalbum im pappbraunen Digipack, und sind firm genug mit Youtube-Clips und Konzerterfahrungen, so dass „Alles nix konkretes“ natürlich in keiner Weise mehr wirklich „überraschen“ kann. Die Frage, ob ein solches Album überhaupt nötig war oder ob man sich zu Zeiten des viralen Overflows auch einfach auf sein ursprüngliches Konzept hätte verlassen sollen, wo es doch in dieser Darreichungsform gerade für Deutschland ein Novum war und sich auf erfreuliche Weise von großgesteuerten Marketingkonzepten absetzte, darf sicherlich diskutiert werden. Aber wem soll man das nun vorwerfen? Höre ich da ernsthaft erste Sellout-Flüsterer? Ob man das Album als Bescheidwisser im Regal haben muss, kann doch jeder selbst entscheiden. Ob man das wirklich äußerst mitsing- und radiotaugliche „Pocahontas“ als Single haben will, ist zudem auch völlig Banane, weil für jeden mit genug Weitblick klar sein dürfte, dass die Veröffentlichung dieses Songs als Aushängeschild wegen seines enormen Pop-Appeals eben eine offensichtliche Wahl ist. Die by the way in der Regel nicht die Band trifft, sondern das Label.

Die Frage, ob es ewig frisch bleiben wird, das Innenleben eines Studenten(generationsangehörigen) mit seinen Sorgen und Gedanken nach außen zu kehren, ergibt sich zwangsläufig und muss schon auch erlaubt sein. Wie die Band sich entwickelt, wird das nächste Album zeigen. Über Liebe und gescheiterte Beziehungen wird man aber immer singen dürfen und müssen, weil derlei Erlebnisse immer aufs Neue existenziell sind.

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte schon kurz vor dem Albumrelease einen interessanten Artikel. Darin stellte sie die Frage, ob sich AnnenMayKantereit mit dem offiziellen Debüt und dem Majordeal nicht in ganz anderer Hinsicht selbst ein Bein gestellt habe: Die Unverbrauchtheit, die Nonchalance, die edle Größe im Kleinen, die so viele Leute so sehr begeistert hat, droht durch die Marketingmaschine zur Masche zu verkommen. Nicht, weil es Masche wäre. Sondern weil durch das exzessive Öffentlichkeitsplacement die Band nun eben die ist, in der vier unverbrauchte junge Jungs in Schlabberklamotten so ehrlich und authentisch über das Innenleben ihrer Generation singen. Wenn Henning May im Interview nun sagt, dass die Jungs eben sie selbst sind, wird es viel leichter als Phrase ausgelegt, als vor zwei Jahren, wo man jedes Wort unbesehen glaubte (und wenn man die Jungs erlebte auch glauben durfte) und die Tatsache an sich bewunderte.

Das Phänomen wird zum Label, das bisherige Alleinstellungsmerkmal zur Blaupause. Wie soll einer, der Popmusik nur aus perfekt aufbereiteten Darreichungsformaten kennt, vom Unterschied wissen zwischen ehrlicher und erdachter Authentizität? Ohnehin ist das ein Unwort. Lese ich in Presse-Sheets von Authentizität, tun mir direkt die Synapsen weh. Authentisch sind doch alle. Sonst verkauft sich das nicht. Mit Künstlichkeit lässt sich nur Geld verdienen, wenn das Gesamtimage stimmt. Da muss man dann schon Lady Gaga sein. Wo liegt für den, der AnnenMayKantereit zum ersten Mal im Radio hört, tatsächlich der Unterschied zu Bosse, Revolverheld oder Tim Bendzko?

Ach ja, klar: Dann eben in den Texten. Aber dass man ausgerechnet in einem Land, in dem textliche Finessen und Doppelbödigkeiten im Formatradio so wenig wertgeschätzt werden, dass Bands wie Revolverheld oder Andreas Bourani Dauerairplay eingeräumt bekommen, während die Tocotronics, die Teles oder die Tomtes dieses Landes stets als pseudointellektuelle Studis abgewinkt wurden, einer Band vorwirft, sie würde in ihrer Kunst, die Befindlichkeit einer Generation mit derart einfachen Worten so erwiesenermaßen prägnant auf den Punkt zu bringen, dass sie die Generation darüber und darunter gleich mit abholt - Dass man dieser Band also vorwirft, trivialen Quatsch zu machen, ist purer Unfug. Die Einfachheit bei AnnenMayKantereit war immer mehr Präzision als Selbstzweck. Man könnte auch sagen: Haters gonna hate.

Aber es ist eben einfach, das, was Erfolg hat, zu haten, und es ist auch einfach, das, was nicht mehr seins ist, zu verteufeln. Verlässt uns unser Partner für jemand neues, ist es ja auch ein Leichtes, ihm die Pest an den Hals zu wünschen statt alles Gute. So funktioniert das Game. Wer hoch steigt, kann tief fallen. Eine Tatsache, die AnnenMayKantereit gerade eindrucksvoll erfahren dürften (wobei von Fall noch keine Rede sein kann) und hoffentlich mit dem ihnen gegebenen gebührenden Abstand nicht zu ernst nehmen.

Nicht, dass jetzt alle Kritiken schlecht wären, oh nein. Und überhaupt; dass das, was gerade passiert, die Band aus dem Konzept bringt, ist eigentlich nicht vorstellbar. Zu safe haben die Jungs mit guten Leuten um sich herum ihre Optionen geprüft und das Spiel Popbiz beobachtet; zu lange haben sie sich Gedanken gemacht, abgewägt und gewartet. Gut so.

Denn die Popmusik ist ein beschissenes Haifischbecken, in dem es Leute nur so lange gut mit einem meinen, wie für sie selbst etwas abfällt. Wenn ich mich im Zuge der Albumveröffentlichung von AnnenMayKantereit über etwas ärgere, dann darüber, dass diese Jungs jetzt weit weniger in der Hand haben, Teil dieser Maschine zu sein. Der Band ist das nicht anzukreiden. Die macht das, was eine Band, die Erfolg hat, eben so macht: Sie wächst und will wachsen. Es zeigt nur, dass es manchmal nicht wünschenswert sein muss, dass alle über einen sprechen. Weil das zwangsläufig die Zahl der Leute erhöht, die auf den Zug aufspringen und ihre Meinung kundtun müssen statt einfach die Klappe zu halten. Jetzt müssen sie reden weil jeder es tut.

Vor zwei Jahren wären diese Leute an der Minibühne des Orange Blossom Special mit einem Achselzucken vorbeigegangen. Hätten beim Appletree Garden kurz die Augenbrauen hochgezogen, sich das zweite Bier aufgemacht oder nochmal kurz einen Powernap eingeschoben. Fundierte Kritik ist wichtig und nötig. Ganz ohne Frage. Die seltsamen Mechanismen des Mainstreampop braucht hingegen in Wirklichkeit kein Mensch.



Text: Kristof Beuthner