Artikel 02.08.2016

Die Lichter. Das Strahlen. Das Spielen. Der Sound. - Nillson beim Appletree Garden 2016

Ein Funke glimmt in uns, immer größer werdend. Spätestens Anfang Juli beginnt es. Dann steigt die Vorfreude, dann wird Platz im Herzen gemacht für die Farben, die Lichter, das Strahlen, das Spielen, den Sound. Und plötzlich ist man wieder auf dem Weg zum Appletree Garden.

Aber es ist keine große Überraschung, dass es beginnt zu regnen, kaum dass wir uns dem Festival um 20 Kilometer nähern. Das ist so in diesem Jahr, wir haben kein Glück. Nach dem kältesten Orange Blossom Special aller Zeiten und dem vermatschten Hurricane ist es nicht weniger als die logische Konsequenz, dass es auch ein nasses Appletree Garden gibt; außerdem sind aller guten Dinge drei; wer die Schlammexzesse von 2014 und den Sturm von 2015 nicht vergessen hat (und wie könnte man das vergessen?), weiß und fürchtet das zugleich. Das strahlende Blau mit den Wattewolken schwenkt innerhalb von Minuten um in bedrohliches Grauschwarz mit dicken Tropfen. Na toll.

Aber was ist das eigentlich für eine seltsame Art, sich zu beschweren? Ich meine: Im Dunkeln, auch das ist Fakt, leuchten die Bäume im Diepholzer Bürgerpark bekanntlich noch intensiver; Lichter der Zuversicht; Manifestationen all der guten Wünsche und schönen Träume für ein Wochenende wie dieses, die uns zwingen, den Kopf zu heben und ihn nicht resignierend zu senken. Da oben wird’s hell, oder um ein altes Laternenlied zu zitieren: Dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir. So war es zuletzt immer, so soll es auch dieses Jahr sein. Was macht es da schon, dass die Parkplätze bei unserer Ankunft wieder aussehen wie eine grünschwarze Wüste? Wir wischen die Zweifel weg. Es ist an wenigen Orten, auf nur sehr wenigen Festivals, so schön wie hier am Lüdersbusch 2. Wie gesagt, ist der Kopf erhoben, dann sieht man auch die Gummistiefel nicht. Und, so viel sei bereits vorweg genommen: Das ganz große Wetterdesaster bleibt aus, es wird keine Schlammfiesta, der Boden muss nicht mehr leiden als nötig in diesem Jahr. Glück gehabt.

Das Appletree Garden hat sich für seinen sechzehnten Geburtstag extra noch ein wenig schicker gemacht als sonst. Man betritt das Gelände nun durch einen überdimensionales, hellblaues Monstermaul; wird verschlungen und findet im Inneren dieses Fabelfestivalgeschöpfs einen wahren Märchenwald wieder. Das Areal ist nicht flächenmäßig vergrößert, nur ideell: Eine Zirkusbühne, auf die man von Kunststoffmatten und manegenförmig angeordneten Europalettentribünen aus blickt, steht dieses Jahr dort, wo man zuletzt den Bänderbaum mit den Spielgeräten und die Schminkstation fand; eine außerordentlich schöne Idee, die das Phantastische und das Geheimnisvolle, das dieses Festival ausmacht, herrlich treffend unterstreicht.

Zwischen den Bäumen hängen Hängematten, eine Slackline ist gespannt, es liegen Elemente zum Jonglieren aus, Spielgeräte; ein ausgehöhlter Apfel prankt wie ein überdimensionierter Bilderrahmen hängend mitten auf der Lichtung. Der Höhepunkt ist eine Kunstinstallation aus abwechselnd aufleuchtenden Regenschirmen hoch über unseren Köpfen. Und wohin man auch blickt: Bunte Lichterketten, Lampions, Flaggen in allen Farben, als Wappen den Apfel für sich vereinend. Wie ein geheimes, nur an drei Tagen im Jahr existierendes Land, in dem nicht nur eine Farbe, nicht nur eine Flagge, nicht nur eine Liebe existiert. Keine Nation, eine Institution. Appletreeland liebt seine Menschen und die Menschen lieben ihr Appletreeland. Zuhause für alle. Oh ja.

Wie passend zu all diesem herrlichen Surrealismus eröffnet das Festival in der Manege mit dem Zirkus Kadarka; schon als wir das Gelände betreten, begegnen wir Mimen, Artisten und Akrobaten, die sich unter das Festivalvolk gemischt haben und uns willkommen heißen. Eine wirklich schöne Idee, zumal das spielerische und akrobatische Moment sich für alle Besucher auf der Lichtung durch die erwähnten Möglichkeiten, sich selbst auszutoben, das ganze Wochenende begleitet. Das zieht uns viel mehr in seinen Bann als die erste Band des Wochenendes, Parcels, und auch das erste gelüftete Geheimnis im Timetable, das Von wegen Lisbeth heißt, kann noch nicht so recht gegen die Magie für die Augen anspielen. Die Hauptstädter sind funky und äußerst tanzbar, aber textlich zwischen Döner, Späti und iPhone insgesamt doch very Berlin. Da fehlt ein bißchen die Intensität.

Die gibt es dafür zuhauf von The Slow Show aus Manchester. Rob Goodwins unnachahmlich sonore Stimme, mit der er zu strahlend orchestralem Folk seine tiefen Weisen sprechsingt, sind eine Klasse für sich, edel, stilvoll, majestätisch. Eine ganze Reihe der Songs stammen vom im September erscheinenden zweiten Album der Band und machen eine Menge Appetit. Leider sieht das nicht jeder so; vor der Bühne treiben sich Brüllaffen und Spaßvögel herum, die sich auf die zwingende Ruhe und Intimität dieser Band nicht so recht einlassen mögen und statt sich in die Hängematte zu legen einfach nur stören. Eine neue Erfahrung inmitten des ansonsten so offenen und begeisterungsfähigen Appletree-Publikums. Die falsche Band zur falschen Zeit? Beim falschen Festival doch eigentlich nicht.

Aber heute wollen die Menschen sich eben bewegen, und dafür hat das Appletree Garden genau die richtige Lösung. Ich persönlich hatte gar nicht auf dem Schirm, dass es die Belgier von Goose überhaupt noch gibt, und sind wir ehrlich, Rave Rock ist ja eigentlich SO 2008, aber das hier heute passt brillant. Still stehen geht nicht; mit flirrenden Synthies, massivst treibenden Beats und Drums und ungeheuerlich viel Schub reißt die Band so ziemlich jeden nach vorne, und auch wir halten das Zuschauen nicht lange durch, schmeißen uns in die Menge, springen auf und ab, verlieren die Orientierung, verschütten Bier und sind extrem glücklich dabei. Ein kolossal guter Abschluss unseres Freitags, auch wenn im Anschluss noch Monolink spielt - mit sanfter Gitarre zu sanft pulsierender Elektronik, aber das setzt der brachialen Kraft von Goose heute keine Krone mehr auf.

Weil wir es am Samstag gemütlich angehen lassen und ausgiebig frühstücken, kommen wir zu spät zur 11 Freunde-Lesung, erfahren aber beim Betreten des Geländes, dass sie gar nicht stattgefunden hat. Glück im Unglück. Statt dessen gönnen wir uns das namentlich passende Doppel aus Woman und Her und starten mit einer guten Portion Smoothness, dezenten elektronischen Beats und einer Prise attraktiven Soulpops in unseren zweiten Festivaltag, bevor uns Siegfried & Joy mit ihren Zaubertricks um den Verstand bringen. Einer von beiden kennt das schon, The Great Joy Leslie war letztes Jahr schon hier und weiß, wie gerne das Appletree-Publikum sich verzaubern lässt. Ich werde nicht müde, zu erwähnen, was für ein gutes Upgrade dieser kleine Festivalzirkus ist.

Der erste Name, den wir uns für die Zeit nach diesem Wochenende ganz dringend werden merken müssen, heißt We Are The City. Die Kanadier experimentieren auf äußerst einnehmende Weise mit Indiepop und Postrock und entwickeln einen nahezu hypnotischen Drive - die muss man im Auge behalten. Sara Hartmans ausladende Popsongs sind nett für den Nachmittag, bleiben allerdings nicht nachhaltig im Gedächtnis. Dann gibt es das nächste Fragezeichen im Timetable, die zweite „Secret Band“, zu beantworten. Und da greift dann wie jedes Jahr ein ehernes Appletree-Gesetz: Keine Ausgabe ohne Ausfall. Vorgezogen auf diesen Slot wird nämlich Georgia, die eigentlich am Samstag auftreten sollte, und auf ihre Position, das erfahren wir via Social Media, wird am nächsten Jahr der Songwriter Ian Fisher, nach seiner Show im vergangenen Jahr mit Tour Of Tours ebenfalls Appletree-Wiedergänger, rutschen - der war aber eigentlich als Secret Act nicht geplant, ist sozusagen das Substitute für den tba. Soweit klar? Na ja - wir gönnen uns zu dem Zeitpunkt ohnehin eine nachmittägliche Siesta und bekommen von all dem erst etwas mit, als es schon entschieden und abgespielt ist.

Me & My Drummers Rückkehr nach Diepholz, dieses Mal auf der Hauptbühne, gerät zu einer euphorischen Angelegenheit. Der elektronisierte Indiepop des Berliner Duos war schon vor vier Jahren sehr faszinierend, aber noch faszinierender ist heute, wie viel Drive, Souveränität und Gespür für die große Geste Charlotte Brandis und Matze Prölloch hinzu gewonnen haben. Ein tolles Konzert. Genau wie das von Oddisee, den wir beim vergangenen Reeperbahn Festival schon einmal angetestet haben und der demzufolge für viel Vorfreude gesorgt hat. In großem Bandaufgebot wirken seine über jazzig-soulige Sounds geschossenen Raps natürlich enorm imposant, so auch hier und heute. Alles hüpft und wird mitgerissen.

Und dann wandert die Hand zwangsläufig ans Herz, denn dann spielen AnnenMayKantereit ihr drittes Appletree-Konzert in Folge, zum zweiten Mal hintereinander nun als Headliner. Man ist sich gegenseitig in Freundschaft tief verbunden; unvergessen bleibt der erste Auftritt 2014 in der ersten Sonne des Wochenendes, der sowohl das Publikum als auch die Band sprachlos zurück ließ. Ein Jahr später verkaufte die Band schon die größeren Hallen aus, nun, nach dem Release ihres „offiziellen“ Debütalbums sind es die ganz großen, und das im Voraus bis 2017. Immer wieder sind wir Henning, Severin, Christopher und Malte seitdem begegnet - so fällt inzwischen deutlich auf, wie es ist, wenn die Jungs sich auf einer Bühne wohlfühlen, und das ist heute absolut der Fall. Es ist ein schönes, intensives, zu Herzen gehendes Konzert mit AnnenMayKantereit in Hochform. Das Beatles-Cover „Come Together“ ist jetzt fester Bestandteil der Setlist. All die anderen Stücke sind inzwischen selbst wie alte Freunde: „Nicht nichts“, „Es geht mir gut“, natürlich „Oft gefragt“ und „Barfuß am Klavier“, bei dem Henning das Publikum vorsichtig, aber eindringlich ermahnen muss, doch bitte nicht mitzuklatschen. Vor allem ist es aber ein absolutes Privileg, solche Konzerte trotz der immensen Größe der Band immer noch in Rahmen wie diesem erleben zu dürfen. Wir sind sehr glücklich heute.

Während David August spielt, gönnen wir uns eine Essenspause an einem der zahlreichen und durchweg hochklassigen Food-Stände. Es gibt so viele gute Alternativen zum obligatorischen Handbrot - das sollte wenigstens kurz erwähnt werden. Wir genießen das so sehr, dass es uns zu Django Django nur für die letzte Viertelstunde vor die Hauptbühne zieht. Ein bißchen springen muss eben noch sein heute. Wer noch nicht genug hat, macht bei Slow Magic einfach weiter: Dort gibt es Synthie-Samples mit Live-Percussion, eine faszinierende Mixtur elektronischer Tanzmusik. Trotz seiner Tiermaske ist dieser Typ alles andere als lediglich der elektrische Cro - das hier hat Style und Klasse und treibt die Leute weiter in die Nacht. Für den lässigen Ausklang sorgt dann der Kölner Tobias Thomas in der Manege: Sanft flowende Elektrobeats, sehr tanzbar, genauso geeignet aber auch, um den Tag im Chillmodus auf den Paletten zu verbringen. Wir entscheiden uns für diese Möglichkeit und lernen zum Abschluss des zweiten Festivaltages etwas schmerzhaftes über Taxipreise.

Dritter Tag: Kopfweh. Autsch. War da etwa Alkohol in den Shots mit den getrockneten Apfelscheiben? Und Mexikaner ist doch bloß Tomatensaft mit Tabasco, oder etwa nicht? Wir quälen uns aus den Federn, auch heute gibt es wieder so viel zu sehen. Aber Faber schaffen wir nicht. Soll gut gewesen sein. Dafür kommen wir pünktlich zu Lilly Among Clouds, und dieser jungen Dame habe ich bitter Unrecht getan, indem ich ihre Musik für süßlichen folky Indiepop gehalten hatte. Nomen ist eben nicht immer gleich Omen. Das klingt wie eine sparsame, aber intensive Version von Florence & The Machine, sehr pointiert und kraftvoll. Lilly hat eine EP dabei, da müssen wir doch glatt mal einen Blick beim Merch riskieren.

Dann vollzieht sich der bereits erwähnte Lineup-Wechsel und Ian Fisher betritt die Waldbühne. Solo, ohne Band, und das ist ein Glücksfall, weil seine hochklassigen Folksongs einfach wie angegossen auf diesen sonnigen Nachmittag passen. Wir setzen uns ins Gras unter die Bäume, schließen die Augen und vergessen uns einfach mal einen Moment lang selbst. So muss sich das Appletree Garden anfühlen, sagt ein Freund; wenn er sich an dieses Festival erinnert, wird er immer dieses Gefühl von Freiheit und Entspanntheit zu toller Musik in sich tragen. Ein fast feierlicher Moment.

Und a propos feierlich, es folgt nichts geringeres als das musikalische Highlight des Wochenendes, und das hört auf den Namen Blaue Blume und kommt aus Dänemark. Die Band war im vergangenen Jahr auch schon hier, eröffnete damals den Donnerstag am späten Nachmittag, allerdings lediglich vor einer Handvoll Menschen, die ihr Zelt zu diesem Zeitpunkt schon aufgebaut hatten. Weil diese wenigen Glücklichen das, was sie da sahen, aber in den Himmel lobten, darf Blaue Blume zurück kommen und zu einer wesentlich gastlicheren Zeit die Hauptbühne haben.

Wir finden uns direkt am Zaun vor der Bühne ein; ein Security-Mensch wandert mit Seifenblasen vor uns her und lässt jeden mal pusten - ein tolles, friedliches Bild, das wahrhaftig für die Atmosphäre dieses Festivals steht. Dann beginnt ein 40 Minuten andauerndes, farbenprächtiges Soundgemälde zwischen Postrock, Sigur Rós-Elegie, Wavepop und purem Bombast, getragen von der unvergleichlichen Stimme von Jonas Smith, der zwischen tiefstem Bariton und höchstem Falsett changiert, als wäre es seine leichteste Übung. Mit Rauschen in den Ohren und Sternen vor den Augen - letzteres könnte auch am Bühnenbild gelegen haben - lässt uns die Band fassungslos zurück. Das ist defintiv anstrengende und fordernde Musik, dafür aber über die Maßen kunstvoll und faszinierend. Wir sind hin und weg.

Alex Vargas passt nicht in unsere allgemeine Verzauberung, und auch Roosevelt biegen uns noch nicht wieder hin, wobei letzteres wirklich richtig schade ist, weil der dritte Secret Act des Wochenendes eine absolut mitreißende Show spielt, mit höchstklassigen, tanzbaren Indielektro-Songs, die richtig viel Freude auf das nahende Debütalbum der Band machen. Aber wir können noch nicht wieder so, wie wir gerne wollen, stehen am Rand, schauen zu und freuen uns. Wesentlich geeigneter für unsere Post-Blaue Blume-Lethargie ist der Brite Jamie Woon auf der Waldbühne, der ein wirklich irrsinnig schönes Konzert mit opulentem Bandaufgebot inklusive zwei großartigen Background-Sängern spielt. Seine erste Platte war noch deutlich housiger geprägt, während die zweite nach strahlendem Nacht-Soul klingt - live bekommt Jamie Woon beide Elemente wunderbar unter einen Hut und zieht uns damit langsam aber ganz sicher wieder zurück ins brodelnde Festivalgeschehen.

Sophie Hunger trägt inzwischen einen wahrlich großen Namen, das erklärt auch, warum sie einen späten Samstagabend-Slot auf der Hauptbühne bekommt - allein, mich begeistert sie immer noch nicht. Die Schweizerin verfügt über eine erstaunliche musikalische Bandbreite und ihre Band ist in höchstem Maße versiert, das steht völlig außer Frage, aber alles ist irgendwie immer zu perfekt, zu rund, zu wenig persönlich, zu wenig kantig. Sie selbst wirkt immer ein wenig wie eine Schauspielerin auf der Bühne, der ich selbst die Songs, die sie als persönlich anmoderiert, einfach nicht abnehme. Schade. Dann lieber einem wirklichen Schauspieler beim Rappen zusehen: Robert Gwisdek alias Käptn Peng kann das halt; es gibt nur wenige Texter, die so intelligente Lyrics zustande bringen, und er und seine Band Die Tentakel von Delphi werden völlig zurecht ausgiebig dafür gefeiert. Im Gepäck ist auch ein neuer, auf lässigem Reggae-Swing basierender Lovesong, der noch keinen Titel hat und dessen Text Gwisdek ankündigt, teilweise ablesen zu müssen, aber der Track ist so stark, dass wir ihn uns bis zum nächsten Album dick hinter die Ohren schreiben.

Ja, und dann wird es gelüftet, das ganz große Geheimnis, der Samstags-Headliner. Und die Veranstalter machen es wirklich spannend, verhängen die Bühne mit einem riesigen Vorhang, so dass niemand das Bühnenbild erkennen kann, bevor der erste Ton erklungen ist. Dass sich die geheime Band dann als Bilderbuch entpuppt, ist für mich persönlich so schade wie für das Festival zum einen und die feierwütige Menge zum anderen konsequent und somit eine ausgezeichnete Wahl. Die Band hat vor einigen Jahren schon einmal hier gespielt und auch damals schon reihenweise Herzen eingesammelt, und dass ich mit diesem augenzwinkernd-gelackten Schickimicki-Wien-Glampop einfach nichts anzufangen weiß, ist ja nun wirklich mein Problem. Das Publikum liebt es und dreht richtig frei, von „Schick Schock“ über „Plansch“ bis „Maschin“ wird wirklich jedes Stück frenetisch gefeiert; da ist selbst die Band spürbar beeindruckt. Aber so ist das eben beim Appletree Garden: Das Publikum liebt seine Lieblinge, und wer einmal überzeugt hat, wird bei seiner Wiederkehr nur noch inniger begrüßt. Nun wissen das auch Bilderbuch.

Dann gibt es eine kleine, eigentlich kaum nennenswerte Enttäuschung zum Abschluss, weil die After Show von RSS Disco nämlich vorzugsweise den techno-affinen Clubgänger catcht und das Hamburger DJ-Team seine fließenden Acid-House-Pop-Nummern elegant, aber eben auch ohne großen Wiedererkennungswert unter den leuchtenden Nachthimmel drapiert. Im vergangenen Jahr hatten wir zu Tanzklub Ost einen der besten Abende überhaupt, weil die Kölner sich darauf besonnen hatten, dass die Herzen nach all den Bands, die das ganze Wochenende über für einen gesungen haben, einfach danach begehren, selbst ein bißchen (oder auch ganz viel) zu singen - und solche Herzen gewinnt man mit Hits, zum Beispiel von Phil Collins, Nek, Lionel Richie und Tina Turner. Das war natürlich für ein so schniekes Indiefestival wie das Appletree Garden eine mutige Nummer, hat aber auch ungeheuer Spaß gemacht. Letztes Jahr war’s eine Party - dieses Jahr ist es ein Ausklang. Auch gut. Die Erinnerung bleibt uns ja.

Und so drehen wir einfach noch eine Runde über das in allen Farben strahlende Appletree-Märchenwald-Gelände, halten hier und da nochmal an, versuchen uns am Diabolo, spazieren über die Slackline, bemühen uns vergeblich, einen Platz in einer Hängematte zu erwischen oder lassen einfach mit Blick in die Bäume, die Lichterketten und Regenschirme den Gedanken freien Lauf ohne ein Wort zu sagen; es spricht sowieso alles für sich. Wer nicht zu RSS Disco tanzt, sitzt entspannt in der gemütlichen Nachtluft, gibt sich noch ein wenig der Atmosphäre hin, lacht, knutscht, spielt, schwelgt. Nie ist es hier so schön wie nachts. Wie habe ich es gesagt - dort oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir. Keine Brüllaffen und Spaßvögel mehr, nur noch sanft verstrahlte, glückliche Menschen, die dem unvermeidlich nahenden Ende eines wundervollen Wochenendes wehmütig entgegen blicken und versuchen, so viel Energie, so viel Glanz und so viel Farbe wie möglich in sich aufzusaugen um sie mit in den am Horizont wartenden Alltag zu tragen und so lange wie möglich davon zu zehren. Ein fabelhaftes, liebevolles, traumwandlerisches Abschiedsbild von einem so einzigartigen, intensiven und atemberaubend bildschönen Festival. Das Licht geht aus. Wir gehen nach Haus.

Selbst als wir zum letzten Mal das hellblaue Monstermaul durchschreiten und einen Blick auf die (in diesem Jahr leider gar nicht leuchtenden) Appletree-Leuchtbuchstaben werfen, lassen wir noch nicht so recht los, spazieren lieber noch über den Campingplatz, auf dem weitestgehend schon die Nachtruhe eingekehrt ist; nur am Zelt dieser Typen, die sich eine Bar gebastelt haben - hier leuchten die Buchstaben dann wirklich! - hat sich noch eine große Gruppe Unermüdlicher versammelt und zelebriert weiter das Leben abseits von Verpflichtung und Funktionieren. Wir bleiben mal hier und mal da stehen, atmen tief ein, die Freiheit ist noch da, sie ist überall spürbar, auch auf dem dieses Jahr separat liegenden Wohnwagen-Platz, wo eine Gruppe mit mitgebrachten Percussion-Instrumenten den Zauber der Nacht besingt. Dann steigen wir ins Auto und verlassen diese magische Zufluchtsburg, die uns ein weiteres Mal so dringlich daran erinnert hat, wie das Leben uns belohnt, wenn man es nur lässt und ihm ein wenig Farbe schenkt dann und wann.

Wieder daheim, so sehr präsent: Was für ein schönes Wochenende das war. Tolle Konzerte, gutes Essen, Freunde vor und hinter der Bühne, weitgehend gutes Wetter und somit ein Anfang zum Bruch mit unserem diesjährigen Festivalfluch, was höchste Zeit wurde. Wir werden uns jetzt ein ganzes Jahr daran erinnern, das wir uns an diesem Wochenende wieder wie Kinder gefühlt haben, unbeschwert und frei, mit Blick für das Wesentliche, mit offenen Ohren für das Neue, mit offenen Augen für das Bekannte und Geliebte.

Etwa nach einem halben Jahr wird diese Erinnerung wieder bereichert werden durch einen Funken, der beginnen wird, in uns zu glimmen. Erst langsam, dann immer größer werdend. Und dann, spätestens Anfang Juli, dann steigt die Vorfreude; dann wird Platz im Herzen gemacht für die Farben, die Lichter, das Strahlen, das Spielen, den Sound.

Und plötzlich ist man wieder auf dem Weg zum Appletree Garden.



Text: Kristof Beuthner

Fotos: Christina Schoh und Kristof Beuthner