Artikel 02.06.2016

Das Immergut 2016 – ein Lobgesang aufs Indie-Altenheim (und J. Distelmeyer)

Das Immergut ist immer eine kleine Zeitreise. Und das Immergut wächst mit. Und bleibt dabei ein bisschen gleich. Es hat die beste Indie-Ballermann-Disco Deutschlands. Und Jochen Distelmeyer.

Das Immergut gibt dir das Gefühl, einer dieser Indie-Veteranen zu sein und wieder so cool zu sein wie du dachtest, dass du es wärst, als du 16 warst und dein ganzes Taschengeld für Platten ausgegeben hast, während du jetzt schon längst in COS-Klamotten und weißen Sneakern in einem hippen Büro sitzt und so wenig Plan von Musik hast, dass das einzige, was du dir anhören kannst, irgendwelche kuratierten Spotify Playlists sind. Aber auf dem Immergut fühlt es sich an, als wär dein Life gar nicht so falsch wie Adorno es finden würde, sondern du total ok und lässig und voll indie und alle anderen um dich herum genauso. Voll erwachsen und immer noch cool. So wie Rick McPhail ungefähr. Immer noch rauchen, aber zum Frühstück Smoothies saufen. Mit der notwendigen ironischen Distanz, versteht sich. Wir meinen das ja alles nicht so ernst.

Das Blöde an manchen Festivals ist ja, dass alle plötzlich jünger sind als man selbst und mit Glitzer im Gesicht und Feenstäben rumlaufen und man das ganze Festival misanthropisch mit einer Flasche Schnaps im Zelt verbringen muss, um sich von diesen anderen Menschen, die so sind, wie man selbst niemals sein wollen würde, abzugrenzen. Das ist auf dem Immergut anders. Weil alle irgendwie alt sind. Und Tocotronic-Zitate auf ihre Grabsteine meißeln lassen wollen. Und Blumfeld noch kennen. LOL!

Ey Jochen, wir müssen reden!

Jochen Distelmeyer ist ja einer dieser Typen, die man kennen muss, wenn man so 1 Indie-Veteran ist wie wir von diesem Indie-Fanzine hier. Und er ist einer der Acts, denen wir mit gemischten Gefühlen entgegen blicken an diesem Wochenende. Blumfeld war wichtig für die Sozialisation von uns allen – so Menschen wie oben beschrieben eben. Das war mal radikal und emotional, das war antideutsch und politisch und gut und wir haben uns verstanden gefühlt in unserer allgemeinen Unverstandenheit. Das war gegen den Staat, gegen das Kapital, gegen Deutschland – gegen alles, was scheiße ist, eben. „L’état et moi“ halt. Ihr wisst schon. 

Und dann kam irgendwann der Apfelmann und wir alle so WTF, Jochen! Und dann ging‘s ganz, ganz steil bergab mit Jochen und vor allem mit unserer Begeisterung für seine Musik. Irgendwann kam sein Soloalbum „Heavy“ und auf dem Cover zerplatzt Jochen Distelmeyer eine riesige pinke Kaugummiblase und der Inhalt der Platte war ungefähr genauso interessant wie das Cover. Und bei „Lass uns Liebe sein“ hätte ihm wohl manche Person gern den Mund mit Kaugummi gestopft. Es ging weiter mit dem Hass, von dem Jochen sich ja selbst fragt, wo er hin soll und der mit seinem Roman OTIS seinen absoluten Höhepunkt erreicht. „Was hat dich bloß so ruiniert?“ fragten sich nicht nur verwirrte Blumfeld-Fans, sondern ungefähr auch die gesamte Feuilletonisten-Fraktion, die dieses Buch besprechen musste.  

Songs of L. and Hate

Und auch in dieser Autorin löst Jochen Distelmeyer starke Gefühle aus. Es ist eine Hassliebe – phasenweise mal Hardcore-Hass, mal zarte Gefühle von Verliebtheit und Bewunderung für das, was früher mal da war, wo jetzt dieser komische Jochen Distelmeyer ist, der Romane schreibt und Coveralben rausbringt. Und dann kommt plötzlich das Immergut und Jochen spielt nachmittags im Birkenhain und will eine Entscheidung: Liebe oder Hass? 

Er sitzt da so auf seinem Stuhl und seine Spaghettihaare fliegen im Wind und über uns schwebt eine Drohne und wir sitzen im Dreck und rauchen kette, um diese starken, undefinierbaren Gefühle irgendwo zwischen Hass und Liebe zu komprimieren. Jochen spielt seine Coversongs und nach zwei oder drei dieser merkwürdigen Lieder stellt sich heraus, dass es Liebe ist: Er macht peinliche Ansagen, animiert das Publikum zum Mitklatschen und „Supertramp“ rufen und ist dabei so – äh – selbstiroinisch und süß, dass Autorinnenherzen dahinschmelzen. Zwischendurch immer wieder die Ansage „Nice, Folks“! Jochen ist ein Mann von Welt: er kann witzige Ansagen auf Englisch machen, englische Coversongs schreiben und „Supertramp“ fehlerfrei aussprechen. 

Er ist witzig. Wenn ich das richtig verstanden habe. Und in diesem wunderbaren Moment auf dem Immergut Festival im Sommerwind mach ich meinen Frieden mit dir, Jochen – auch wenn du n bisschen toxic bist – mit deinem Style, deinen Texten, deinen Ansagen und deinem Humor, bei dem ich mir nicht mal sicher bin, ob das überhaupt Humor ist oder völlig ernst gemeint. Scheiß drauf und Frieden jetzt. Ich begrabe die Haterin in mir noch an diesem Abend und lege hiermit allen, die diesen Text immer noch lesen, „Songs from the Bottom“ von Jochen Distelmeyer ans Herz – und allen, die es nicht mögen, empfehle ich, mal eins seiner Konzerte zu besuchen (oder besser noch so ein Open Air mit Sommerwind, bei dem seine Haare im Wind fliegen). Er ist liebenswert. Trotz allem!

Zurück zum Wesentlichen: Immergut

Neben Jochen Distelmeyer hat das Immergut Booking noch weitere Acts für Indie-Großmütter und -väter gebucht: Tocotronic zum Beispiel (wieder starke Gefühle, jedoch ausschließlich positiv). Und Maximo Park (keine Gefühle). Und Peter Björn und John (Leichtes Lächeln wegen „Young Folks“). Get Well Soon (keine großen Gefühle). Peter Licht (ausschließlich sehr große Gefühle der Sympathie). Eddie Argos (no feelings at all). Und Nagel (nur Feelings für Muff Potter). Aber auch neues Zeug, damit auch wir Alten wissen, was der neue heiße Scheiß ist in dieser Musikwelt. Und weil Jochen da oben so viel Raum eingenommen hat, kommt hier unsere SUPERNEU-UND/ODER-SUPERGEIL-TOP5 vom Immergut Festival im Schnelldurchlauf.

Drangsal

Er ist jung. Er ist blass. Er ist hip. Er macht 1 bisschen auf 80s, hat 1 Universal-Vertrag, hat schon mal in der Rock‘n‘Roll-Hochburg Oelde gespielt und macht sogar ganz nice Music. Er ist Drangsal und es #läuftbeiihm.

Fat White Family

Die Fat White Family ist gar nicht fett. Und auch keine Family. Dafür ganz schön abgefuckt. Und ganz schön weird. Das klingt und sieht ein bisschen aus wie die Sleaford Mods ohne Sprechgesang und mit Pete Doherty.

SUUNS

Artsy. Fartsy. Suuns. Sie kommen aus Montréal, haben bereits drei Alben veröffentlicht und klingen extrem süß, wenn sie Lieder über Angst singen: 

Erobique

Zwar alles andere als neu, aber dafür immer noch saugeil. Erobique säuft hart während seines Sets auf der Birkenhain-Bühne und freut sich auf dem Immergut besonders über die erste weibliche Crowdsurferin in seiner Karriere als Star-DJ. EASY!

IS TROPICAL

IS TROPICAL is gar nicht mal so tropical. Gibt’s ja jetzt auch schon ein paar Jahre. Ist aber nicht mehr ganz so indietronic (HILFE!) wie früher. 1 bisschen ernster das Ganze. Und trotzdem noch #tanzitanzi.

Text: Lydia Meyer