Artikel 29.09.2013

4 Tage ohne Stille - Nillson beim Reeperbahn Festival 2013

Mit 349 Bands (ja, ich habe nachgezählt) und 70 Locations verspricht es ein kurzweiliges und zugleich besonders langes Wochenende zu werden. Denn dieses Jahr wurde das Reeperbahn Festival sogar um einen Tag erweitert und alle Besitzer eines 3-Tagestickets kommen in den Genuss von einem Gratis-Bonus-Warmup-Tag, an dem viele kleine Locations schon vorab die Türen und Bühnen für die Besucher öffnen.

Dieses Angebot nehmen wir gerne an und stürzen uns auch schon am Mittwoch auf die ersten Bands. Wir starten etwas planlos und schauen spontan bei Ben Ivory vorbei. Musikalisch trifft er zwar nicht ganz mein Geschmackszentrum, aber die Kombination mit der traumhaften Location ist sowohl höhrens- als auch sehenswert.

Aus Zeitgründen können wir Vimes danach zwar nur kurz genießen, das reicht aber allemal aus, um die Band ganz oben auf die Muss-Ich-Mir-Unbedingt-Noch-Mal-Anhören-Liste zu notieren.

Dann geht es schnell in die Hasenschaukel. Eine unserer Lieblingslocations und da sind wir wohl nicht die Einzigen. Eine lange Schlange lässt uns kurz bangen, ob wir überhaupt noch rein kommen, aber am Ende passt es dann doch irgendwie und es wird ein überdurchschnittlich “kuscheliges” Talking To Turtles Konzert.

Am Donnerstag beginnt das Festival dann in voller Pracht und Größe und die Australier Stu Larsen & Natsuki Kurai verpassen uns fast im Vorbeigehen die erste Gänsehaut. Neben ein paar klassischen Folk-Nummern wird mal so ganz beiläufig eine unfassbar schöne Version des Coldplay-Klassikers “Fix You” aus der Mundharmonika geschüttelt.

Etwas sprachlos und ziemlich beeindruckt machen wir uns viel zu früh auf den langen Fuß­marsch ins Uebel & Gefährlich um sicher zu gehen, unsere vielversprechenden Favoriten des Abends The Boxer Rebellion auch wirklich nicht zu verpassen. Und wie sich herausstellt hat sich das gelohnt, denn es gibt nicht viele Konzerte, bei denen man sich bereits am ersten (bzw. zweiten) Festivaltag für ein Highlight entscheidet. “Eine Glanzleistung im gesamten Spielverlauf ” würde ein Sportmoderator jetzt sagen.

Die böse Überschneidung mit Hundreds tut deshalb auch nicht mehr so weh und wir schaffen es sogar noch auf ein paar Lieder und eine Zugabe in die Fliegenden Bauten.

Etwas Dramatik darf zum Ende des Tages natürlich nicht fehlen und so macht der Mojo Club vor unserer Nase einen total gut getimten Einlassstop: “Der Laden ist voll”. Natürlich nur ein Bluff und nach 5 Minuten ist wieder genug Platz - zumindest für uns - und man gewährt uns den Zugang zu Ghostpoet. Zur Bühne dürfen wir zwar nicht mehr, aber auf den oberen Rängen ist noch Platz und wir schaffen es noch irgendwie in die erste Reihe und haben perfekte Sicht auf den Londoner, der uns seit dem Auftritt beim Dockville 2012 nicht mehr von seinem Können überzeugen muss. Diesmal hat er sogar eine kleine Band im Gepäck.

Am Folgetag nehmen wir den gleichen Club erneut in Beschlag und lassen uns von James Vincent McMorrow beweisen, dass er die hohen Töne auch tatsächlich genau so trifft, wie auf seinem Album. Ein sehr sympathischer Kerl und eine willkommene Entschleunigung auf einem manchmal etwas hektischen Festival.

Danach werfen wir einen ersten Blick ins Terrace Hill, wo das Grand Hotel Van Cleef heute das Programm aufstellt und das Publikum den ganzen Abend mit aktuellen Bands des Labels bespielt. Mit Empfehlung des Hauses sozusagen. Und so lässt es sich Thees Uhlmann auch nicht nehmen Young Rebel Set anzumoderieren und mit der Geschichte der Band-Entdeckung in Erinnerungen zu schwelgen. Es folgt ein tanzbares Set, wie es sich jeder vorstellen kann, der die sympathischen Engländer schon mal live erlebt hat.

Marcus Wiebusch macht bald Solo und Kettcar eine kreative Pause auf unbestimmte Zeit. Vielleicht das letzte Kettcar Konzert? Eine gewagte These, deren Antwort ich wohl gar nicht kennen möchte. Da genieße ich lieber die auf 75 Minuten komprimierte Zeitreise durch die Diskografie einer der wohl wichtigsten Hamburger Bands. Etablierte Klassiker über den Typ vom Balkon gegenüber, das musikalische Dankeschön an die Academy und zum Abschluss zwei Hymnen über die schöne Stadt in der Sie wohnen und gerade spielen. Am Ende bleibt eine bewährte Floskel, die heute ein bisschen anders klingt als sonst: “Wir waren Kettcar. Vielen Dank, dass ihr da wart!”.

Am letzten Tag schwindet die Kondition spürbar, aber die Müdigkeit wird von Euphorie verdrängt. 65daysofstatic spielen im Gruenspan und wir sind dabei. Nach dem Gefühlshoch des Boxer Rebellion Konzertes am Donnerstag kommt hier ein würdiger Konkurent als Antwort auf die Frage nach dem Festivalhighlight. Aber diese Bands kann man einfach nicht vergleichen und zum Glück muss man das auch nicht. Die Postrocker aus Großbritannien bringen alles auf den Punkt, was ich an ihrem Genre so liebe. Eine enorm breite Geräuschkulisse in voller Lautstärke und dabei trotzdem so viel Struktur und Ordnung. Und natürlich die immer wiederkehrenden Off-Beat Drums, die dafür sorgen, dass man auf keinen Fall ruhig stehen bleiben kann.

Der spätere Einlassstopp bei Slut zwingt uns zur spontanen Planlosigkeit und wir steuern einfach wahllos ein paar Bühnen an. Hören Petter Carlsen im Jazz Café und schauen The Blood Arm beim Tanzen auf den Tischen zu.

Langsam wird es voll. Das Festival ist heute ausverkauft und das Besuchermaximum mischt sich mit den Reeperbahn-Party-Touristen. Bei Birdy schauen wir nur kurz vorbei, wir schaffen es zwar in die 4. oder 5. Reihe aber leider nur von hinten und so sehen und hören wir leider kaum etwas.

Egal. Wollten wir doch eh zu Kvelertak in die Große Freiheit 36. Hätte ich vorher gewusst, dass der Bandname zu deutsch “Würgegriff” bedeutet, wäre ich wohl auch nicht ganz so überrascht gewesen. Überrascht von einem Frontmann, der mit einer ausgestopften Eule auf dem Kopf die Bühne betritt und oberkörperfrei mit rausgestreckter Plauze ins Publikum spuckt. Das Konzert ist trotzdem ganz nett. Anders aber nett.

Es ist spät geworden und wer Lust hat geht jetzt noch ins Molotow und wartet beim Motorbooty! tanzend auf den Sonnenaufgang. Wir hatten eine schöne Zeit und freuen uns auf den Sonntag, den wir brauchen um die letzten Tage in Form von neuen Spotify-Playlisten zu verarbeiten. Danke liebes Reeperbahn Festival!

Text und Fotos: Stefan Kracht